Bekenntnis zu Deutschland
von Joseph Roth (1931)
Dem aufrichtigen Bekenntnis zu
dem Lande, das man aus geheimnisvollen und also nicht zu erörternden Gründen
sein Vaterland heißt, muß man, beinahe aus ebenso unerklärlichem Grund, eine
Art Erläuterung vorausschicken. Nirgends und niemals noch hat ein Bekenntnis
zur Heimat einer Entschuldigung bedurft. Heute und bei uns sieht man sich
gezwungen, vorerst die Bekenntnisformel von der schwülstigen Verlogenheit zu
säubern, mit der man sie beworfen hat, von der papiernen Phraseologie, von der
es seit Jahrzehnten um sie raschelt, von der blutrünstigen Roheit, die seit
Jahrzehnten den Patriotismus, die Liebe zur Nation und die Sprache in Pacht
hält und vergewaltigt.
Dem Vaterland kann man seine
Anhänglichkeit nur in einer Form erklären, die sich unzweideutig scheidet von
den üblichen Formen patriotischer Liebeserklärungen. Es gab eine Zeit in
Deutschland, wo die stille Würde des Gelehrten, die behutsame Scheu des
Dichters, die staatsmännische Vernunft des Politikers und alle einfachen Herzen
der privaten Menschen mit natürlicher Selbstverständlichkeit die Liebe zum
Vaterland gestanden und bekannten in Briefen, in Werken, in Äußerungen jeder
Art. Es gab keine patriotisch privilegierten Parteien, und die vaterländischen
Bekenntnisse waren noch keine demonstrativen Schlachtrufe. Das Nationalgefühl
war die stillschweigende Voraussetzung jeder Gesinnung ‑ so wie die
menschliche Solidarität die stille Voraussetzung jeder wahrhaft menschlichen
Existenz ist. Wie unsicher müssen jene Nationen geworden sein, bei denen ganze
Parteien ein jahrzehntelanges Leben von der selbstverständlichen und keineswegs
politischen Überzeugung bestreiten, daß sie national seien, und von der
unermüdlichen Äußerung dieser Überzeugung. Sich innerhalb einer Nation heimisch
fühlen ist eine primäre Regung des zivilisierten europäischen Menschen,
keineswegs eine »Weltanschauung« und niemals ein »Programm«. Es wäre
infolgedessen nur konsequent anzunehmen, daß jene Parteien die wahrhaft
»nationalen« sind, die es nicht erst ausführlich bekennen, sondern das
nationale Gefühl als selbstverständlich voraussetzen.
Das
scheint aber nicht der Fall. Denn die Heftigkeit, mit der große und edle Teile
der Nation ihren Patriotismus wiederholen, die Leidenschaft, mit der ein
großer Teil der Jugend sich in hitzige Kämpfe einläßt, um nichts anderes zu
erreichen als eine Stärkung und Sicherung des nationalen Gefühls: es läßt uns
annehmen, daß in den anderen Lagern das primäre nationale Gefühl geschwächt
worden ist, im Laufe der Zeiten und der Kämpfe, verschüttet von Mißverständnissen,
von Debatten, von Idealen sogar. Und doch ist die Vorstellung absurd, daß ein
deutscher Mensch, das heißt: ein Individuum, das innerhalb des deutschen
Kultur‑, Denk‑ und Sprachgebiets die Quellen seines geistigen
Lebens findet, deutscher sein könnte oder weniger deutsch als ein anderer. Wo
gäbe es in der Natur Beispiele dafür, daß sich eine Scholle eines bestimmten
Ackers besser dünken könnte als ihre Schwester? Wie unaussprechlich undenkbar
etwa die Vorstellung, daß es Eichen gäbe, von denen die eine eichenhafter wäre
als die andere? Warum dieser Streit, der die Gleichheit aller leugnet und alle
scheidet und alle umbringt? Wieviel weither geholte Beweise für etwas
Unbeweisbares weil längst Bewiesenes? Die Nation, ein Begriff, den man nicht
eindeutig definieren kann, eben weil sie so eindeutig besteht ‑ wer
wollte zum Beispiel die Natur definieren? ‑ bedarf keiner besonderen
Beweise durch ihre Angehörigen, und wer sich zu ihr bekennt, hat nichts anderes
gesagt, als was wir schon längst wissen. Es scheint nun aber so zu sein, daß
diejenigen, die seit Jahrzehnten ihr nationales Bekenntnis nicht ablegen, es
verschüttet oder gar vergessen haben! Denn es muß doch irgendeine Beziehung
sein zwischen der nationalen Lautheit der einen und der nationalen Stummheit
der anderen; es muß doch eine Beziehung sein zwischen dem Zwang des einen,
immer lauter zu rufen, und der immer stärkeren Taubheit des andern! Vielleicht
rufen die einen so stark, weil die andern kein Echo geben? Vielleicht aber ‑
und wahrscheinlich ist dem so ‑ geben diese andern aus Schamhaftigkeit
kein Echo? Vielleicht ist es zu spät und zu laut um »das Nationale« geworden?
Ja, so ist es vielleicht, und deshalb halten wir es für nötig, einen Versuch zu
wagen und mag er kümmerlich ausfallen. Und das Wort, das mißbrauchte,
abgehetzte, durch alle Gossen geschleifte und durch alle undurchsichtigen
Parteienkanäle, das Wort: Deutschland, deutsches Land, mit jener stillen
Ehrfurcht zu wiederholen, mit der allein es ausgesprochen werden darf. Dennoch
ein deutsches Wort: Wort einer tausendmal mißhandelten, durch Revolverpresse
und Reklamewesen verschandelten, zu Programmen und Annoncen verwandelten
Sprache! Sie lebt ja noch, sie lebt, wie die heimatliche Erde, die den
künstlichen Dünger aus Ammoniak übersteht und überdauern wird, und wie der
heimatliche Bauer, der stärker ist als die Partei, die er wählte. Ja, sie lebt
in dem Maße, daß ihre geheime Leuchtkraft sogar noch durch die sprachlichen
Vergewaltigungen strahlt und noch die häßlichsten Worte am Leben erhält, ihre
kranken, verkrüppelten Kinder. Sie lebt noch in den Menschen, die sie nicht
mehr beherrschen, und sogar noch in dem Zeitungspapier, auf dem sie täglich
hundertmal mißhandelt und mißbraucht wird. Sie macht selbst noch den schlechten
Geschäftsbrief wirksam, der sie desavouieren will, und die »Geschäftsanzeige«,
in der sie zu einem Kauderwelsch verarbeitet pro Zeile erscheint. In sechzig
Millionen Menschen, die sie nicht mehr alle richtig sprechen können, in mehr
als hundert Millionen, wenn man das ganze deutsche Sprachgebiet mitzählt, lebt
die deutsche Sprache. Mißachtet und verhunzt und lediglich zu einem
Verkehrsmittel degradiert, hat diese Sprache noch die Kraft, Dichter
hervorzubringen, Begeisterte, Propheten und viele Millionen, die in ihr
schweigen und lesen. Über die ganze Welt gehen unsere Bücher ‑ und selbst
in den schlechten, gegen die sie sich sträubt, lebt sie. Wer in ihr denkt,
handelt auch nach ihren uralten Gesetzen, die fest gefügt sind, seit mehr als
einem Jahrtausend, in Büchern, die noch Jahrtausende überdauern werden. Ihre
Gesetze, die Gesetze der deutschen Sprache, sind die einzig unwandelbar
gültigen im Verlauf des jahrhundertelangen deutschen nationalen Lebens. Und
ihre Unwandelbarkeit ist noch so stark, daß sie Fremde assimiliert, anzieht und
heimisch macht, aufzieht und wandelt. In der Mitte liegt sie, wie das Land,
zwischen Ost und West, Nord und Süd. In der Mitte ist sie, wie wir alle. Aber
entschiedener als wir alle, die wir aus unserer Lage unsere Tugenden beziehen
und unsere Laster, unsere Unentschiedenheit, unsere Neuerungssucht, unsere
Unsicherheit, unsere Vorurteilslosigkeit und unsere Maßlosigkeit, unsere
Freiheit und unser Schwanken, unsere Nachahmungssucht und auch unsere Kunst
nachzuahmen: entschiedener als wir alle wahrt die deutsche Sprache die alten
Gesetze der alten nationalen Form, einzige Hüterin der nationalen Form ist die
deutsche Sprache. Andere Völker haben ihre einheitliche Geschichte, eine
Religion, einen regelmäßigeren Ablauf der Überlieferung und schließlich keine
Scham, bevor sie sich bekennen. Zwischen ihrem Glauben und ihrer Hymne ist
völlige Übereinstimmung, zwischen ihrem Ideal und ihrer Phrase ist nicht der
weite Weg, den wir zurücklegen müssen, wenn wir eine nationale Parole aussprechen.
Denn diese Sprache, in der wir reden, ist keusch. Es ist nicht leicht, in ihr
Liebe zu bekennen, ohne schal oder schamlos zu werden. Und ehe ein Deutscher
ein Gefühl ausspricht, muß er es sich dreimal überlegen und sechsmal müßte er
es formen. Andere Sprachen sind wohltätiger vielleicht, andere Menschen
hurtiger und findiger. Und glücklicher auch. Ja, andere Länder sind auch
glücklicher.
Es wird überliefert, daß
Napoleon von diesem Land gesagt habe: »Acht Monate Schnee, zwei Monate Regen,
und das nennt die Bande Vaterland!« Zu diesem Schnee, zu diesem Regen und zu
diesem Vaterland sich bekennen heißt: eine europäische, eine kosmopolitische,
eine große Gesinnung bekennen. Noch peinlichere Dinge als Schnee und Regen
haben wir zu dulden und vielleicht, hoffentlich auch, zu überwinden: den
törichten Ehrgeiz und die Rekordsucht, den eitlen Stolz auf die Maschine und
die Phrase, die unglückliche Veranlagung, sich nicht aussprechen zu können,
also: nicht aussagen zu können, die sprachliche Unbegabtheit, die Langsamkeit
des Denkens und also den leichtfertigen Griff nach der papiernen Wendung, die
Liebe zum Klischee und den großen, großen Abstand zwischen dem, was wir fühlen,
und dem, was wir sagen. Also: die Unverstandenheit. Und dies ist unser wahres
Unglück: die Unverstandenheit. Den großen Vorrat an Mißverständlichkeiten, der
in der Sprache aufgespeichert ist, wenn man sie nicht sehr überlegt anwendet. Wenn
man Deutschland über alles sagt; wenn man den Rhein den deutschen Strom nennt;
wenn man »deutsches Wesen« sagt: immer, immer diese Leichtfertigkeit zu
formulieren, die von der Schwerfälligkeit auszusagen stammt, und die
Geschäftigkeit der andern: das Ungeschickte schlecht zu finden, böse das
Hilflose und Übermut das Schüchterne. Und immer die Scham der Sprachbeherrscher
und der Wortgewandten, vaterländisch zu reden, die Furcht der Gewissenhaften ‑
wie sie die Gewissenhaften anderer Nationen nicht kennen ‑ mit den
Gewissenlosen verwechselt zu werden. Denn die Leichtsinnigen haben im
wörtlichen Sinne das nationale Bekenntnis den Sprachwissenden aus dem Munde
genommen. Unerträglich: das Vaterland als Objekt der Litfaßsäulen an den
Straßenecken zu sehn. Das Bekenntnis erstirbt auf den Lippen, weil es von
andern in den Straßen gebrüllt wird. Und der Schwur verliert seine Gültigkeit,
die Beschwörung ihre Kraft und der Ruf wird ein Geschrei. Wie schwierig ist es
da, ein Patriot zu bleiben! Und wie notwendig ist es aber auch! Kein Land hat
dermaßen Liebe nötig. Ein junges Land, ein wandelbares auch, von dem ein kranker
und heimwehkranker, verlorener und launischer, genialer und entfremdeter Sohn
gesungen hat:
Deutschland
ist noch ein kleines Kind.
Aber
die Sonne ist seine Amme,
sie
säugt es nicht mit frommer Milch,
sie
säugt es mit nährender Flamme.
Joseph Roth, geboren am 2.9.1894 in Schwabendorf bei Brody in
Galizien, gestorben am 27.5.1939 als Emigrant in Paris, schrieb u.a.:
"Hotel Savoy" (1923), "Hiob" (1930),
"Radetzkymarsch" (1932), "Kapuzinergruft" (1938), "Die
Legende vom heiligen Trinker" (1939).