Moral und Politik

 

Die Freiheit vom bestehenden Staat war ‑ mehr als ihre soziale Gleichheit ‑ das eigentliche Politicum der bürgerlichen Logen. Die innere Gesetzlichkeit der Logen, ihre Freiheit und Unabhängigkeit waren nur möglich in einem Bereich, der dem Einfluß sowohl der kirchlichen Instanzen wie dem politischen Zugriff der herrschenden Staatsgewalt entzogen blieb. Das Geheimnis hatte daher von vornherein eine abweisende, eine schützende Funktion. "Die Geheimnisse und das Schweigen", heißt es 1738 ausdrücklich in einem Zusatzprotokoll zur Verfassung der Hamburger Loge, dieser ersten Gründung auf deutschem Boden, "die Geheimnisse und das Schweigen (sind) die hauptsächlichsten Mittel, um uns zu behaupten und uns den Genuß der Maurerei zu erhalten und zu bekräftigen." An die Stelle des Schutzes durch den Staat tritt der Schutz vor dem Staat.

 

Diese schützende Funktion nun, die das Geheimnis für die Maurer gehabt hat, fand ihr geistiges Korrelat in der Trennung von Moral und Politik. Bereits bei der Gründung der bürgerlichen Freimaurerei wurde sie in aller Bewußtheit festgelegt. Die Trennung zu beachten und einzuhalten gehörte zu den "Alten Pflichten", die 1723 unter der Regie von Desaguliers verfaßt wurden, und damit bestimmte sie auch die Richtung der übrigen Systeme, die mit der Ausbreitung der königlichen Kunst über Europa die "Alten Pflichten" als Arbeitsgrundlage übernommen hatten. "A Mason is obliged, by his Tenure, to obey the Moral Law ...", so lautet der erste Satz der Verfassung, der Maurer ist durch seinen Beruf verbunden, dem moralischen Gesetz zu gehorchen. Mit dieser Verpflichtung legte Desaguliers eine doppelte Frontstellung fest: die Front gegen die bestehenden Staaten und die Front gegen die herrschenden Kirchen. Während man früher verpflichtet war, sich den jeweiligen Landes‑ oder Staatskirchen anzuschließen, so heißt es statt dessen jetzt, sich nur der Moral, dieser für alle Menschen unterschiedslos gültigen Religion, der neuen "Catholick Religion" unterwerfen: "yet 'tis now thought more expedient only to oblige them to that Religion in which all Men agree ..." Wie der absolutistische Staat bisher die religiösen Spannungen politisch neutralisiert hatte, so wollen die Bürger nunmehr selber alle Glaubensdifferenzen moralisch überbrücken. In der Freimaurerei wird die bürgerliche Morallehre sozial verwirklicht. "Whereby Masonry becomes the Center of Union, and the Means of conciliating true Friendship among Persons that must else have remain'd in a perpetual Distance."

 

Noch wichtiger aber war, um die gesellschaftliche Welt zusammenzuschließen, die ausdrückliche Abwendung von der herrschenden Politik, die sich nicht von den Gesetzen einer außerstaatlichen Moral, sondern von der jeweiligen Staatsräson leiten ließ. "We are resolw'd against all Politicks", stellen die Maurer im sechsten Artikel ihrer Verfassungen fest, und dieses Bekenntnis verkünden sie wie heute noch im ganzen achtzehnten Jahrhundert.

 

Diese Ablehnung der Politik war in England zunächst von der innerpolitischen Absicht getragen, über die bestehenden Parteien hinweg eine neue soziale Einheit zu stiften, aber zugleich sollte sie die Regierung davon überzeugen, daß die geheime Gesellschaft ungefährlich und daher zu dulden sei. Doch während in England die königliche Kunst bald eine enge Liäson mit der georgianischen Politik einging und auch auf dem Festland in ihren Dienst trat, blieb innerhalb der absolutistischen Staaten die in der Verfassung ausgesprochene Trennung von Moral und Politik in aller Schärfe bestehen. Aus der Not, keine politische Autorität zu besitzen, machte die neue Gesellschaft ihre Tugend: sie verstand auch ihre geheime Institution nicht als "politisch", sondern von vornherein als "moralisch". In den Logen herrscht ein besserer Souverän, es ist die Tugend, die das Szepter führt: "La vertu a son Trone dans nos loges, nos coeurs sont les sujets, et nos actions le seul encens qu'elle y recoive avec complaisance." Die Maurer versicherten immer wieder heilig, keine politischen Zwecke zu verfolgen, denn unter ihrer gemeinsamen Herrschaft im Zeichen der Tugend bedarf es keiner politischen Kunstgriffe mehr, äußerliche Konstruktionen wie die Balance erübrigen sich ‑ allein schon in der inneren Verbindung ist das Glück garantiert. Mögen die Staaten die Macht in ihren Händen halten, durch das Geheimnis monopolisieren die Maurer für ihre soziale Institution die Moral.

 

Das Geheimnis war, wie expressis verbis in den Constitutions ausgesprochen, die Grenzscheide zwischen Moral und Politik: es schützt und umgrenzt den sozialen Raum, in dem sich die Moral verwirklichen sollte.

 

Ein entwicklungsgeschichtlicher Rückblick macht die aus der Struktur des absolutistischen Systems sich ergebende Zwangsläufigkeit deutlich, mit der sich der moralische Innenraum nur im geheimen Gegenzug gegen die staatliche Politik entfalten konnte: die Freiheit im geheimen Innern, in der Seele des einzelnen Staatsbürgers, die Hobbes aus dem absolutistischen Staate ausgrenzen mußte, um seinen Souveränitätsbegriff ableiten zu können, die Freiheit, die sich dann bei Locke "by a secret and tacit consent" der Individuen in einer vom Staate unabhängigen philosophischen Gesetzgebung niederschlug, diese bürgerliche Freiheit war in dem absolutistischen Staat nur zu verwirklichen, solange sie sich weiterhin auf einen geheimen Innenraum beschränkte. Das moderne Bürgertum wächst zwar aus dem geheimen Innenraum einer privaten Gesinnungsmoral heraus und konsolidiert sich in privaten Gesellschaften; aber diese bleiben weiterhin von dem Geheimnis umgrenzt. Die bürgerlichen Maurer verzichten nicht auf das Geheimnis des moralischen Innern, denn gerade in ihm finden sie ihre vom Staate unabhängige Existenz garantiert. Die geistige Tatsache, "to be in secret free", erhält damit in den Logen ihre soziale Konkretion. Scheinbar ohne den Staat zu tangieren, schaffen die Bürger in den Logen, diesem geheimen Innenraum im Staate, in eben diesem Staat einen Raum, in dem ‑ unter dem Schutz des Geheimnisses - die bürgerliche Freiheit bereits verwirklicht wird. Die Freiheit im geheimen wird zum Geheimnis der Freiheit.


 

Um die Freiheit zu verwirklichen, hatte das Geheimnis über seine Schutzfunktion hinaus eine weitere, ebenfalls bewußt angesetzte Funktion: die bürgerliche Welt innergesellschaftlich in genuiner Weise auch zusammenzuschließen. Wie sich kraft dieser Funktion die moralische Welt unsichtbar in den politisch durchgängig festgelegten Raum der absolutistischen Staatenwelt hineinschiebt, wird jetzt verfolgt. Dabei wird sich erweisen, daß durch diesen scheinbar unpolitischen Prozeß der Staat ‑ gleichsam per negationem ‑ bereits in Frage gestellt wird und daß es gerade die moralische Gerichtsbarkeit ist, die diesen Prozeß überwacht und führt, indem sie sich auf die dualistisch abgespaltete Politik ausweitet.

 

Quelle: "Kritik und Krise - Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt" von Reinhart Koselleck, Freiburg/München 1959, S. 58 - 61

 

Anmerkung: Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei zur Klarstellung darauf hingewiesen werden, daß es hier um geistesgeschichtliche Fragestellungen im Zwiespalt von Aufklärung und absolutem Staat geht. Die Rolle, die die Freimaurerei dabei noch geraume Zeit vor der französischen Revolution gespielt hat, mag durchaus eine ehrenwerte gewesen sein, wenn man durch die "idealtypische Brille" schaut. Wenn man allerdings beispielsweise die konkreten Erfahrungen Friedrich des Großen nimmt, der unwissend der Loge beitrat, um sie späterhin mit Verachtung zu strafen und mit Spott zu übergießen, ahnt man, wie weit Anspruch und Wirklichkeit schon damals meilenweit auseinanderlagen. Was dann die angebliche unpolitische Haltung der Freimaurerei anbetrifft, wird das Lügengebilde der Loge insbesondere seit 1887 unübersehbar. Was danach - einschließlich der beiden Weltkriege - an Grausamkeiten und Schrecken über Europa und die Welt kam, war zum überwiegenden Teil das Werk der Hochgradfreimaurerei.