Gegenseitige Bespitzelung in den Logen
Das Geheimnis trennte die (Freimaurer-)Brüder
von der übrigen Außenwelt, und so entwickelte sich durch die Abweisung aller
bestehenden sozialen, religiösen und staatlichen Ordnungen die neue Elite, die
Elite als "Menschheit". Die Teilnahme am Geheimnis hielt ein
unbestimmtes Mißtrauen und Vorsicht gegen die Außenstehenden wach, die ständig
beschworene Sorge vor "Verrat" trug immer dazu bei, das Bewußtsein
der eigenen, der neuen Welt zu steigern und damit die Verpflichtung, ihr zu
dienen. So festigte sich durch das Geheimnis das Überlegenheitsgefühl der
Mitwisser, das Elitebewußtsein der neuen Gesellschaft. Innerhalb der
Gesellschaft schuf wiederum die Abstufung der arcana in die verschiedenen
Grade, die in den Hochgraden der strikten Observanz geradezu krankhafte
Auswüchse zeitigten, eine Hierarchie sui generis, in der Bürger und Adel
gemeinsam verbunden waren. Je mehr er eingeweiht wurde, desto mehr gewann ‑
oder hoffte sie zu gewinnen ‑ der Maurer an Einfluß und Geltung, deren
Möglichkeit jedenfalls von rein innergesellschaftlichen Qualifikationen abhing.
So förderte die Abstufung einen ständigen Drang nach oben, der wiederum zu einer
dauernden Aufstufung der Grade führte, und das letzte arcanum versprach die
Teilhabe an der Lichtquelle der Aufklärung. Diesen Drang befriedigen hieß aber
zunächst sich unterordnen, man mußte Gehorsam wahren, den man freiwillig
leistete, da er nur Leuten gleichen Geistes gezollt wurde. Innerhalb der
strikten Observanz entwickelte sich die im "Unbekannten"
verschwindende Spitze zu einem sozialen Mythos, der die Gewichtigkeit des
arcanum und der daran geknüpften moralischen Selbstkontrolle steigern half. Die
"großen Unbekannten" waren immer irgendwo, aber zugleich überall
anwesend und konnten wie die "Verschwundenen" der Illuminaten, die
insgeheim diesen leeren Platz zu besetzen trachteten, jederzeit über Führung
und Verhalten der Glieder zu Gericht sitzen. Der ursprüngliche Zwang zum
Geheimnis hatte sich in dem deutschen Logenwesen gleichsam verselbständigt. Er
war einem Trend zur Mystifikation gewichen, der dem Glauben an eine
allmächtige, geheime und indirekte Herrschaft jenseits des Staates Vorschub
leistete. Die unbekannte Spitze erschien so fern und so nahe zugleich wie das
unendliche Ziel des Fortschritts, der alles Heutige schon reguliert.
In jedem Fall entwickelte sich
in den verschiedenen Obödienzen eine eigenständige Herrschaftsordnung. Das
Geheimnis sicherte dabei durch seine Abstufung der tatsächlichen
Führungsschicht ein überlegenes Wissen. Die Trennung zwischen einem weltlichen
Außenraum und einem moralischen Innenraum wurde damit in die Gesellschaft
selber übertragen und zum Zwecke der Führungsaufgaben differenziert. Durch die
verschiedenen Grade der Geheimhaltung wurde ein Schleusensystem geschaffen, das
nach innen, in die Maurerei hinein und innerhalb der Systeme nach oben hin,
offen war, aber nicht nach unten und außen. Das Geheimnis wurde damit zu einem
Herrschaftsinstrument, das z. B. in dem Illuminatenorden konsequent gehandhabt
wurde. Die Priesterregenten dieses Ordens gingen ‑ in Anlehnung an
jesuitische Vorbilder ‑ dazu über, ein akkurates System geheimer
Kontrollberichte einzuführen. Die Brüder waren verpflichtet, monatlich über
sich selbst ‑ in moralischer Offenheit ‑ und über ihre Mitbrüder ‑
in gegenseitiger Bespitzelung ‑ versiegelte Meldungen zu erstatten. "Dadurch
muß er sich und andere notwendig entziffern, und schriftlich
compromittiren." Auf dem Wege dieser geheimen Kontrollen "erfahren
die Oberen alles, was sie immer zu erfahren verlangen. Daher sagen sie von sich
selbsten: Wir sind imstand, mehr zu wissen, als die übrigen Menschen, mehr zu
wirken, als andere." Um zum Illuminatus major aufrücken zu können, war wie
bei der Zulassung ein gewaltiger Fragebogen auszufüllen, der auf 32 Druckseiten
mehrere hundert Fragen umfaßte, die den Anwärter in geistiger, charakterlicher,
sozialer und ökonomischer Hinsicht restlos aufschlüsselten. Das Geheimnis galt
hier zunächst als ein Vehikel moralischer Erziehung, indem "der Hang des
Menschen zum Verborgenen und Geheimnisvollen auf eine für die Moralität so
vorteilhafte Art benutzt wird", aber zugleich lieferte es den Zögling dem "Sittenregiment" aus, diesem
"Direktorium der Toleranz", das kraft des Geheimnisses die Brüder im
Namen der Moral bereits moralisch terrorisierte. Die Illuminaten bildeten
innerhalb der zahllosen Geheimbünde zweifellos den deutschen Extremfall
eigenständiger Herrschaftsplanung. Aber insofern sind sie symptomatisch. Analog
zielte in England ‑ entsprechend früher ‑ die Gründung der
"Grand Lodge" zunächst darauf ab, die bereits bestehenden verstreuten
Logen einer strengen und einheitlichen Kontrolle zu unterwerfen; ein Vorgang,
der sich in Frankreich 1773 wiederholte. Auch die Illuminaten suchten nur die
Konsequenz zu ziehen, die sich aufdrängte, sowie das Geheimnis einen neuen
sozialen Raum erschlossen hatte.
Quelle: "Kritik und Krise - Ein Beitrag zur Pathogenese der
Bürgerlichen Welt" von Reinhart Koselleck, Freiburg/München 1959, S. 62 -
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