Sibyllinische Zeilen
Vor der Eröffnung des
Konvents, der mit annähernd hundert höheren Graden, ohne jedes Ritual und ohne
die geringsten maurerischen Symbole durchgeführt wurde, fand ein bisher geheim
gehaltenes anti‑freimaurerisches Pamphlet aus dem Untergrund von
Frankfurt, das in wenigen hektographierten Exemplaren unter den Brüdern
verteilt worden war, bohrendes Interesse. Es endete mit folgenden Kernsätzen:
"Sie (die Freimaurer) können nur weiter leben, wenn Sie im Lager der
Feinde unserer Völker bleiben. Nur wenn Sie im Feindeslager bleiben, haben Sie
keinen Boden unter den Füßen und nur wenn Sie keinen Boden unter den Füßen
haben, sind Sie im Besitze jener Freiheit, die Sie sich gewünscht und verdient
haben.
Suchen Sie uns nicht unter den Lebenden. Suchen Sie uns unter den
verstorbenen Märtyrern unseres Volkes!"
Die Mehrzahl der Brüder war in
Gedanken noch mit der Entzifferung dieser sibyllinischen Zeilen beschäftigt,
als sich der deutsche Großmeister erhob, um ihnen die Gedankenarbeit
abzunehmen. Ohne Umschweife nannte er in seiner Ansprache fünf harte
Formulierungen, mit denen das in der Luft liegende Problem der europäischen
Maurerei definiert werden mußte:
1) Mit welchen Mitteln konnte verhindert
werden, daß der Freimaurerei, in Anbetracht ihres nach außenhin nicht zu Tage
tretenden Machtanteils im geistigen und politischen Leben der Gesellschaft,
auch die Hauptverantwortung für die negativen Aspekte der Zeitentwicklung
angelastet wurde?
2) Sollte mit den zur Verfügung
stehenden Machtmitteln des Staates eingegriffen und zum Gegenschlag ausgeholt werden,
wenn der Zeitpunkt erreicht war, wo
die einzelnen Logenmitglieder oder die Logeneinheiten selbst, durch die
heimtückischen Anschläge des Gegners bedroht, oder gar vernichtet wurden?
3) Wenn sich die in der
breiten Öffentlichkeit kaum bekannte numerische Minderheit der
Logengesellschaften und der ihr verwandten Organisationen des Rotary‑Clubs,
Odd Fellows u. a. durch den Einsatz von staatlichen Machtmitteln in Sicherheit
brachte, konnte nicht vermieden werden, daß sie sich damit selbst als
"Machtträger im Hintergrund" identifizierte, das heißt, die
Logengesellschaften verlören ihren bisherigen Status als unpolitische
Vereinigung und wären gezwungen, ihre Absichten im Rahmen der profanen
politischen Parteien in der Öffentlichkeit zur Diskussion zu stellen.
4) Eine öffentliche Diskussion
über die politischen Endabsichten der Freimaurerei, die mit der Diskussion über
die geplante Errichtung des Weltstaates identisch wäre, würde die Loge dem
dringenden Verdacht aussetzen, daß sie die gravierenden anarchistischen
Bewegungen aller Richtungen organisiert und begünstigt habe, um auf diesem Wege
die Desintegration und Schwächung der Völker zu betreiben, immer mit dem Ziel,
die Weltherrschaft der Großlogen zu errichten.
5) Das öffentliche Auftreten
der Großlogen für die Weltstaatspolitik würde die Brüder nolens volens dazu
zwingen, den sich überall gegen sie erhebenden Gegner mit faschistischen
Gewaltmethoden niederzuschlagen, oder selbst unterzugehen. Die von ihnen
gegründeten und unterstützten bereits bestehenden Organisationen der UN, würden
sich zwar auf ihre Seite stellen und sie mit ihren Blauhelmen an den jeweiligen
Brennpunkten dieser Auseinandersetzung notfalls mit Waffengewalt unterstützen;
da nun aber die Entwicklung zur Integration der Völker infolge der vorhandenen
nationalen Verschiedenheiten ungleichmäßig vorangeschritten war ‑ indem
sich z.B. die Großmächte Rußland und China mit ihren Verbündeten zweifellos en
bloc gegen den Versuch einer massiven Einmischung durch die internationale
Organisation widersetzten, würden sich schließlich zwei einander feindlich
gegenüberstehende Weltblöcke bilden, worauf ein dritter Weltkrieg unvermeidbar
wäre.
Quelle: "Leviathan - Drama einer Hintergrundmacht" von Konrad
Ott, München 1974, S. 9 - 11