Die polnische Freimaurerei

 

"Vor einiger Zeit ist von Warschau aus die etwas sensationell abgefasste Mitteilung in die Welt hinausgegangen, es habe sich da aus verschiedenen politischen Gruppen eine neue Vereinigung gebildet, die auch bereits eine Erklärung zur polnischen Frage bereit und dafür eine Anzahl von Unterschriften gesammelt habe. Noch sensationeller scheint indes die Besprechung, die die Lodzer Godzina Polski in ihren Nummern 80, 81 und 82 vom 19., 20. Und 21. März dieser Ankündigung widmet. Das Blatt beginnt mit der ironischen Erwähnung der hundert, oder genau gesagt, neunund­neunzig Unterschriften, die jene Erklärung bereits gefunden habe, die der Welt verkündigt werden solle als der Ausdruck der Ueberzeugungen und Bestrebungen der Polen des russischen Anteils. Kulminationspunkt der Erklärung sei die Feststellung, dass das "Bestreben Polens die Erlangung eines unabhängigen Staates" ist, den in gleicher Weise das Interesse Polens wie das Interesse Eu­ropas verlange. Die Godzina Polski, die anscheinend von dem Standpunkt ausgeht, dass das Bessere des Guten Feind sein kann, fühlt die Pflicht, die Quellen dieser nationalen Pathologie näher zu beleuchten. Man müsse endlich die Arbeit einer Clique demaskieren, die die Naivität der einen und die chronische, also unheilbare revolutionäre Hysterie der anderen für geheime Zwecke geschickt ausnütze. Es handle sich um sieben scheinbar verschiedene  Gruppen, hinter denen sich aber die gleiche Clique  mit ihrer vergiftenden und destruktiven Tätigkeit verberge.

 

Diese sieben Gruppen werden zunächst einzeln charakterisiert. Sie seien hier kurz erwähnt: Erstens die Gruppe der nationalen Arbeit, eine Handvoll Intelligenz, die zunächst russophil, dann neutral war, zweitens die Polnische Konförderation, eine von Haus aus unversöhnlich antirussische Organisation, die aber dann innerlich zerfiel und unter der ziellosen Leitung junger Leute unfreiwillig die Geschäfte Russlands besorgte, drittens die Liga der­ polnischen Staatsidee, eine unterirdische Clique viertens die P. P. S., die mit ihren revolutionären Phrasen nur Russland nütze, fünf­tens die Polnische Volkspartei, eine Geburt allerneuesten Datums, in dem auch so an Parteien unheimlich reichen Polen, sechstens die Fortschrittliche polnische Vereinigung, bekannt durch ihre Unterzeichnuug der Dankadresse an den Grossfürsten Nikolaj vom 16. August 1914, siebtens der Verband der Fortschrittler, der auf einem Kanapee Platz habe.                              I .

 

Das seien, so etwa führte die Godinza Polski aus, die ver­schiedenen  Schilder einer von einer einzigen Hand zielbewusst geleiteten Gruppe, von einer Hand, die nicht zulassen wolle, dass sich ein modus vivendi zwischen Polen und den Mittelmächten bilde. Es handle sich um die nicht zahlreiche, aber sehr  soli­darische und elastische Gruppe der Freimaurerei, die durch ihre Mitglieder überall eindringe, nicht nur um alles zu wissen, sondern auch um bei ihr genehmen Dingen die Führung zu über­nehmen, nicht genehme aber zu paralysieren oder zu vereiteln. In Polen habe die mangels staatlichen Lebens apolitische Freimaurerei Jahrzehnte lang einen Kampf mit der katholischen Kirche geführt, bis im Jahre 1905 das russische Kadettentum sie in das Treiben des freimaurerischen St. Petersburger Liberalismus hineinzuziehen suchte. Als dabei nichts herauskam, führte sie für einige Jahre wieder den Kampf gegen die Kirche, aber schon unter dem Volke. Bei Kriegsbeginn befand sich das Warschauer Freimaurertum in schwieriger Lage. Vom Grossorient von Frankreich abhängig, musste sie am Seil der Koalition ziehen, wollte anderseits aber auch den ersönlichen Einfluss unter den radikalen polnischen Or­ganisationen nicht verlieren, die ausnahmslos eine antirussische Haltung einnahmen. Indes erprobt in der Verteilung der Rollen, wusste sie sich zu helfen. Und so unterschrieb die Fortschritliche Vereinigung mit der polnischen Fortschrittspartei die erwähnte Adresse an den Grossfürsten, während die freimaurerische radikale "Intelligenz" zu der Vereinigung der Unabhängigkeitsorganisationen stiess und zwecks Wahrung ihres Einflusses unter der polnischen Irredenta "antirussische Front" simulierte. Aber auch hierbei wusste sie für die Koalition zu arbeiten, indem sie eine einheitliche praktische Orientierung hinderte und durch bandwurmlange Reden die Konsolidierung der antirussischen Irredenta aufhielt. Auch auf Posten in der Bürgerwache und im Bürgerkomitee und in deren sämtlichen Verzweigungen wusste sie ihre Leute zu bringen. 'Das halbe Jahr seit der Flucht der Russen,' heisst es u. a. wörtlich, "verwendete die Freimaurerei auf die Vereitelung aller Bestrebungen zur Schaffung eines grossen Lagers der Polen zur endgültigen Befreiung der polnischen Länder vom russischen Joch und eines auf die Mittelmächte sich stützenden polnischen Staates. Bei allen Verständigungskombinationen wusste sie es so einzurichten, dass nicht klar ausgesprochen wurde, dass die endgültige Bezwingung Russlands die unerlässliche Voraussetzung für die Schaffung eines polnischen Staates ist. Es ist verständlich, dass sie das nicht über sich bringen konnte, denn die Bezwingung Russlands wäre zugleich die Bezwingung der Koalition. Und die hiesige Freimaurerei ist eben eine Expositur der Koalition, also macht sie in naiven Köpfen die Erfüllung aller Hoffnungen von dem Sieg der Koalition abhängig, wobei in ihren Vorstellungen England und Frankreich die Rolle der Oblate spielen, die den Polen das Mitschlucken Rußlands mit der Koalition erleichtert."

 

In diesem Bestreben habe die Freimaurerei die politische Naivität der einen, die Erbitterung anderer, die Geneigtheit zu hysterischen Reaktionen bei noch anderen geschickt ausgenützt, um ihnen den Grundsatz der "reinen Unabhängigkeit" einzuprägen, die mit der Anlehnung an die Mittelmächte unvereinbar ist. Von diesem Standpunkte aus ist es nicht weit bis zur "Neutralität" oder gar bis zum "Kampf nach drei Fronten". Mag es Unsinn, Selbstmord sein, wenn es nur nicht gegen die Koalition geht! In diesem Sinne sei jetzt auch die besagte Erklärung ausgedacht worden zu derselben Zeit, wo auch aber Erfolge Dmowskis geflüstert werde: "Still sitzen, England wacht und wird das unabhängige Polen auf dem Präsentierteller bringen." Es sei ein Meisterstück der Freimaurerei gewesen, Naive auf eine leere Parole zu verpflichten, die aber so trefflich den Zwecken ihrer Autoren diene.


 

Bei Kriegsbeginn, so schliesst die Godzinia Polski ihre Kritik, habe es nur zwei Wege für Polen gegeben, den einen mit Russland, der auf Grund der Vergangenheit eigentlich als ausgeschlossen hätte gelten müssen, den andern mit den Mittelmächten. Den ersteren wählte Dmowski und sein Anhang teils offen, teils geheim unterstützt durch die Freimaurerei. Es zog dieses Weges eine Schar kritikloser Menschen, geblendet durch die stolze Ankündigung der Vereinigung der polnischen Länder und eingeschüchtert durch das Gespenst der russischen Macht. Den zweiten Weg ging die polnische Irredenta. Jetzt, da es lächerlich wäre, von der Vereinigung unter Russland zu sprechen, rede man von der Unab­hängigkeit, Dmowski mit Hinzufügung "unter dem Szepter Romanoffs" die Freimaurer von Frankreich und England als Garanten flüsternd. Das Empörendste an  der Sache sei, dass man so tue, als habe es erst dieser 99 Unterschriften bedurft zur Bestätigung der unbestreitbaren Tatsache, dass die Polen einen polnischen Staat wollen. Nicht darum handle es sich, sondern darum, wie man dieses Ziel erreichen, mit wem und gegen wen man gehen wolle. Die Verfasser der Erklärung schielten nach der Koalition, denn sie sagten nicht, dass die siegreichen Waffen der Mittelmächte Polen befreit haben, sondern dass es durch "Kriegsereignisse" von der russischen Herrschaft befreit worden sei. Wenn man von dem Interesse Europas rede, das einen polnischen Staat verlange, so zeige diese Fassung nur, dass man sich vorbeidrücken wolle, die Dinge beim rechten Namen zu nennen, und doch hänge davon das Los Polens ab.."

 

Quelle: "Kölner Volkszeitung" vom 13. April 1916