Der Hungerpakt - oder "Après moi le déluge"

 

"So ist es heute, und so war es in den beiden Jahrzehnten, welche der französischen Revolution vorausgingen. Ueber die inneren Kämpfe, welche sich damals in Frankreich abgespielt haben, freilich hinter den Kulissen, gibt eine kleine höchst wichtige Schrift "Die Jesuiten durch die Freimaurer vertrieben", im Jahre 1788 herausgegeben von einem Anonymus, wertvolle Aufschlüsse. Wenn es damals auch nicht zur gänzlichen Vertreibung der Jesuiten aus Frankreich gekommen ist, so wissen wir doch, dass die ganze Bewegung der Revolution zum grossen Teil gegen die katholische Kirche gerichtet war, welche man beschuldigte, alle freiheitlichen Regungen beim Volke zu unterdrücken.

 

Nun ist es aber zur Genüge bekannt, dass es gerade die Jesuiten waren, welche im 18. und 19. Jahrhundert das Volk vor der Ausbeutung durch seine Tyrannen und geheime aristokratische Gesellschaften, deren es in Frankreich vor der Revolution eine grosse Anzahl gab, schützten. Diese aristokratischen Geheimbündler waren alle ohne Ausnahme Freimaurer. In der Regel werden nur Danton und Robespierre genannt als die Mörder Ludwig XVI. und als die Regisseure der Septembermetzeleien; in Wirklichkeit waren beide nichts anderes als Werkzeuge der französischen Freimaurerei. Beide waren durch einen Schwur gebunden, sie mussten alles geschehen lassen, wenn sie nicht selbst niedergemetzelt sein wollten, was den anderen doch nichts geholfen hätte. So konnte auch Carnot die Hinrichtung seines Freundes Lavoisier nicht hindern, denn dieser war, wie alle Grossgrundbesitzer im damaligen Frankreich, Freimaurer und Miturheber des Hungerpakts. Man darf nicht etwa glauben, dass alle Opfer der Septembermetzeleien unschuldige Lämmer waren, die zur Schlachtbank geführt wurden: sie hatten fast ausnahmslos Anteil an jenem  Hungerpakt. Wenn die Hofpartei die Oberhand behalten hätte, würde es mit der Unterdrückung der Volksmassen, welche die Jesuiten stets in Schutz genommen hatten, noch viel schlimmer geworden sein. Wir haben ein Beispiel in dem sogenannten "Terreur blanche" im Jahre 1814, wo man z. B. in Grenoble die Mutter und die Schwester eines angesehenen Bürgers und Katholiken gewaltsam von ihren Plätzen aus der Loge eines Theaters entfernte, weil ein paar Hofdamen diese Plätze wünschten.

 

Ludwig XVI., ein Schwächling und ein Spielball der Hofpartei, hatte, solange er noch unter dem Einfluss der Kirche stand, dem durch den Adel (dessen Mitglieder damals ausschliesslich der schottischen Freimaurerloge angehörten) unterdrückten Volk Versprechungen gemacht, wodurch ihre Lage gebessert werden sollte. Aber die Freimaurer umgarnten je länger je mehr den schwachen König, so dass nicht nur alle Versprechungen auf dem Papier blieben, sondern schliesslich auch der Hungerpakt durch ihn erneuert wurde. Das Volk sollte durch den Hunger kuriert werden; der Brotkorb sollte ihm höher gehangen werden! Der König hat wohl selbst nicht gewusst, was er tat, als er den Pakt unterzeichnete; jedenfalls traute ihm die Hofpartei nicht mehr, sie fürchtete, dass er eines Tages seine Unterschrift zurückziehen würde. Um das zu verhindern, wurde L u d w i g XVI. schon im Sommer 1788 in einer geheimen Freimaurerversammlung in Clermont zum Tode verurteilt; eine dunkle Persönlichkeit, Weisshaupt, war Vorsitzender dieser Versammlung. Hier wurde dem König zur Last gelegt, dass er allein der Urheber des Hungerpaktes sei! So verdrehten die französischen Freimaurer damals die Tatsachen!

 

Sie hatten damals freilich noch keine Ahnung, dass die Geduld des Volkes bald erschöpft sein würde. Ohne dass sie es wussten, hatten sich auch die kleinen Leute ‑ namentlich in Paris - in ihren Augen das dumme Volk, die Kanaille, in Geheimverbänden organisiert, und der Sturm, der im September 1789 losbrach, erschütterte ganz Europa in seinen Grundfesten. Das Haupt Ludwigs XVI. fiel auf dem Schaffot, auch das der Königin Marie Antoinette; ihre Familienangehörigen am Wiener Hofe konnten sie nicht retten, die französischen Freimaurer waren zu mächtig. Jedenfalls steht es fest, dass das Königspaar auch ohne die Verurteilung des Revolutionstribunals durch Meuchelmörder gefallen wäre.

 

Dann brüsteten sich die französischen Freimaurer damit, dass sie alles anbaufähige Land in ihrem Besitz hatten und dasselbe ganz nach ihrem eigenen Belieben anbauen oder brach liegen lassen konnten. Sie produzierten nur soviel Getreide, als nötig war für den Lebensunterhalt des Volkes, und sie bestimmten die Preise für alle Lebensmittel. Sie wollten wohl, dass das Volk seinen Hunger stille für teures Geld, aber das Volk sollte beileibe nicht satt werden. Auf diese Weise hoffte man, alle freiheitlichen Regungen im Keime ersticken zu können. Es hat Geschichtsschreiber gegeben, welche den Stab brechen über die Jesuiten und welche die französischen Freimaurer verherrlichen als die Schöpfer einer neuen Aera. Nein, das ist Geschichtsfälschung und Entstellung wahrer Tatsachen.

 

Heute feiern in Frankreich Freimaurer und Kapitalisten wieder Orgien; sie sind es, welche das Volk in diesen Krieg hineingehetzt haben und weitere wahnsinnige und verbrecherische Opfer von ihm fordern. Die neuerdings in der Pariser Presse aufgetauchte Meldung, dass in Frankreich vielleicht schon bald einheitliches Kriegsbrot oder gar die Brotkarte eingeführt werden soll, erinnert lebhaft an jenen Hungerpakt unter Ludwig XV. und Ludwig XVI. Die Ernte in Frankreich und in Algerien war im vorigen Jahre eine überaus gute, und der Saatenstand in Algerien war auch in diesem Jahre, wie ich aus sicherer Quelle weiss, ein ausgezeichneter. Von einem Mangel an Getreide, namentlich an Weizen, kann also keine Rede sein, zumal die Getreidefelder in Algerien durch kein Naturereignis mehr beschädigt werden können, denn Hagel und Heuschrecken treten hier erst auf, wenn die Ernte eingeheimst ist.

 

Es scheint, dass die heutigen Freimaurer in Frankreich auch jetzt dem Volke den Brotkorb höher hängen wollen, ganz so wie vor 135 Jahren. Ob sie damit Glück haben werden? Derjenige, welcher das französische Volk näher kennt, wird es bezweifeln. Dieses Volk hat schon oft eine geradezu bewundernswerte Geduld und Ausdauer bewiesen; aber alles hat seine Grenzen, und der Tag wird bestimmt kommen, an welchem es erkennen wird, dass es nur ausgebeutet werden soll durch seine freimaurerische und kapitalistische Regierung. Wenn das französische Volk die Marseillaise singt, marschiert es mit Todesverachtung gegen den Feind; aber wenn es die Carmagnole singt, fliegen die Pflastersteine seinen eigenen Tyrannen entgegen. Vielleicht öffnet die Einführung von Kriegsbrot und von Brotkarten dem französischen Volke die Augen; vielleicht merkt es, dass es sich nur um eine Erneuerung des Hungerpaktes handelt. Marseillaise ‑ Brotkarte ‑ Carmagnole! Und was dann?

 

Den gewissenlosen französischen Freimaurern ist's gleich; sie denken, wie ihre Logenbrüder von 1789: Après moi le déluge."

 

Quelle: Max Roloff in der Morgenausgabe der "Kölner Volkszeitung" vom 19.4.1916