Freimaurergericht tritt geheiligte und international anerkannte
Grundsätze des Strafrechts mit Füßen!
Eingabe der Gesamtverteidigung an das internationale Militärtribunal in
Nürnberg
19. November 1945
Zwei furchtbare Weltkriege und
die gewaltsamen Zusammenstöße, durch die der Frieden unter den Staaten in der
Zeit zwischen diesen großen erdumspannenden Konflikten verletzt worden ist,
haben in den gepeinigten Völkern diese Erkenntnis reifen lassen: Eine wirkliche
Ordnung zwischen den Staaten ist nicht möglich, solange jeder Staat kraft
seiner Souveränität das Recht hat, zu jeder Zeit und zu jedem Zweck Krieg zu
führen. Die öffentliche Meinung der Welt hat es in den letzten Jahrzehnten
immer schärfer abgelehnt, daß der Entschluß zur Führung eines Krieges jenseits
von Gut und Böse stehe. Sie unterscheidet zwischen gerechten und ungerechten
Kriegen und verlangt, daß die Staatengemeinschaft den Staat, der einen
ungerechten Krieg führt, zur Rechenschaft zieht und ihm, wenn er siegen sollte,
die Früchte seiner Gewalttat versagt. Ja, es wird gefordert, daß nicht nur der
schuldige Staat verurteilt und haftbar gemacht wird, sondern darüber hinaus,
daß die Männer, die an der Entfesselung des ungerechten Krieges schuldig sind,
von einem internationalen Gericht zur Strafe verurteilt werden. Darin geht man
jetzt weiter als selbst die strengsten Rechtsdenker seit dem frühen
Mittelalter. Dieser Gedanke liegt der ersten der drei Anklagen zugrunde, die in
diesem Prozeß erhoben worden ist, nämlich der Anklage wegen Verbrechen wider
den Frieden. Die Menschheit will, daß dieser Gedanke in Zukunft mehr als eine
Forderung, daß er geltendes Völkerrecht ist.
Aber heute ist er noch nicht
geltendes Völkerrecht. Weder die Satzung des Völkerbundes, dieser
Weltorganisation gegen den Krieg, noch der Kellogg‑Briand-Pakt, noch
irgendein anderer Vertrag, der nach 1918 in jener ersten Welle der Versuche,
den Angriffskrieg zu ächten, geschlossen worden ist, hat diesen Gedanken
verwirklicht. Vor allem aber ist die Praxis des Völkerbundes bis in die
allerjüngste Zeit in diesem Punkt ganz eindeutig. Er hatte mehrfach über
Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit des gewaltsamen Vorgehens eines
Bundesmitgliedes gegen ein anderes zu entscheiden. Aber er hat stets das
gewaltsame Vorgehen nur als Verstoß des Staates gegen das Völkerrecht
verurteilt, und nie auch nur daran gedacht, Staatsmänner, Generale und
Wirtschaftsführer des gewaltübenden Staates zu beschuldigen, geschweige denn
vor ein internationales Strafgericht zu stellen. Und als in diesem Sommer in
San Francisco die neue Weltfriedensorganisation errichtet wurde, hat man keinen
Rechtssatz geschaffen, nach dem in Zukunft ein internationales Gericht die
Männer, die einen ungerechten Krieg auslösen, zu Strafe verurteilen werde. Der
jetzige Prozeß kann sich deshalb, soweit er Verbrechen wider den Frieden ahnden
soll, nicht auf geltendes Völkerrecht stützen, sondern ist ein Verfahren auf
Grund eines neuen Strafgesetzes, eines Strafgesetzes, das erst nach der Tat
geschaffen wurde. Dies widerstrebt einem in der Welt geheiligten Grundsatz der
Rechtspflege, dessen teilweise Verletzung im Hitler‑Deutschland
außerhalb und innerhalb des Reiches erregt mißbilligt worden ist. Es ist der
Satz: Bestraft werden darf nur, wer gegen ein zur Zeit seiner Tat bereits bestehendes
Gesetz verstoßen hat, das ihm Strafe androht. Dieser Satz gehört zu den großen
Grundsätzen der Staatsordnung gerade der Signatarstaaten des Statuts für diesen
Gerichtshof, nämlich Englands seit dem Mittelalter, der Vereinigten Staaten von
Amerika seit ihrer Geburt, Frankreichs seit seiner großen Revolution, und der
Sowjetunion. Und als jüngst der Kontrollrat für Deutschland ein Gesetz erließ,
das die Rückkehr zu einer gerechten deutschen Rechtspflege sichern soll,
verfügte er in erster Linie die Wiederherstellung des Satzes: Keine Strafe ohne
ein Strafgesetz, das zur Zeit der Tat schon galt. Dieser Satz ist eben nicht
eine Zweckmäßigkeitsvorschrift, sondern entspringt der Einsicht, daß sich jeder
Angeklagte ungerecht behandelt fühlen muß, wenn er nach einem nachträglich
geschaffenen Gesetz bestraft wird.
Die Verteidiger aller
anwesenden Angeklagten würden ihre Pflicht verletzen, wenn sie das Verlassen des
geltenden Völkerrechts und die Zurücksetzung eines allgemein anerkannten
Grundsatzes der modernen Strafrechtspflege schweigend hinnähmen und Bedenken
unterdrückten, die heute auch außerhalb Deutschlands offen ausgesprochen werden.
Dies um so mehr, als die Verteidigung einhellig überzeugt ist, daß dieser
Prozeß auch dann, ja gerade dann in hohem Maße dem Fortschritt der Weltordnung
dienen könnte, wenn er sich nicht vom geltenden Völkerrecht entfernt. Er müßte
sich eben dort, wo wegen Taten angeklagt wird, die zu ihrer Zeit nicht unter
Strafandrohung standen, darauf beschränken, umfassend zu untersuchen und dann
festzustellen, was geschehen ist, wobei die Verteidigung mit allen Kräften als
echter Gehilfe des Gerichtes mitarbeiten wird. Die Staaten der
Völkerrechtsgemeinschaft müßten dann unter der Wucht dieser richterlichen
Feststellung in rechtsschöpferischer Vereinbarung die Männer, die in Zukunft
schuldhaft einen ungerechten Krieg beginnen, mit der Bestrafung durch ein
internationales Gericht bedrohen.
Die Verteidigung ist weiter
der Anschauung, daß auch andere Normen strafrechtlichen Inhalts in dem Statut
den Rechtsgrundsatz: "Nulla poena sine lege" gegen sich haben.
Die Verteidigung ist
schließlich verpflichtet, schon jetzt auf eine andere Eigenart dieses Prozesses
hinzuweisen, mit der er von allgemein anerkannten Grundsätzen der modernen
Strafrechtspflege abweicht: Die Richter sind nur von Staaten bestellt, die in
diesem Krieg die eine Partei gewesen sind. Diese eine Streitpartei ist alles in
einem: Schöpfer der Gerichtsverfassung und der Strafrechtsnormen, Ankläger und
Richter. Daß dies nicht so sein dürfte, war bisher gemeine Rechtsüberzeugung,
wie denn auch die Vereinigten Staaten von Amerika als Vorkämpfer für die
Einrichtung einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit und Gerichtsbarkeit
stets verlangt haben, daß die Richterbank mit Neutralen unter Zuziehung von
Vertretern aller Streitparteien besetzt werde. Im Ständigen Internationalen
Gerichtshof in Den Haag ist dieser Gedanke in beispielgebender Weise
verwirklicht worden.
Im Hinblick auf die Vielfalt
und die Schwierigkeit dieser Rechtsfragen stellt die Verteidigung den Antrag:
Der Gerichtshof möge von
international anerkannten Völkerrechtsgelehrten Gutachten über die rechtlichen
Grundlagen dieses auf dem Statut des Gerichtshofes beruhenden Prozesses
einholen.
gez.
Dr. Sthamer
Das Gericht hat diesen Antrag am 21. November
1945 verworfen mit der Begründung, daß er die Zuständigkeit des Gerichts in
Frage stelle und sich damit in Widerspruch zu Artikel 3 des Statuts befinde.