Schlüsselromane

Zu den drei bekanntesten Schlüsselromanen, die Lübeck betreffen

Der (gegenüber Stefan Zweig) ungleich gründlichere norddeutsche Analytiker und Chronist der spätbürgerlichen Verfallskultur war Thomas Mann (1875-1955). Er begann mit skurrilen und makabren Erzählungen...Die Buddenbrooks (1901) begründeten seinen Ruhm. Diese Sage von Blüte und Niedergang einer großbürgerlichen-hanseatischen Kaufmannsfamilie läuft durch mehrere Generationen, ist aber mit besonders persönlicher Anteilnahme der Spätphase, dem Verfall, zugewandt. Personen und Schicksale seiner eigenen Lübecker Familie sowie Verhältnisse seiner Vaterstadt Lübeck dienten dem Erzähler als Modell. Denn Thomas Manns Werk gründet sich stofflich nicht so sehr auf die freischaffende Phantasie als auf gewissenhaft-sorgfältige Studien und auf präzise Beobachtung, auf einen "Polizistenblick", der selbst den geringsten Zug auffängt und festhält. ...

Der Verfall des Hauses Buddenbrook rührt her von der wachsenden geistigen Differenzierung, dem wachsenden Eigenwert ästhetisch-philosophischer Kultur- und Lebensführung und der daraus folgenden zunehmenden Schwächung der biologischen und ökonomischen Leistungsfähigkeit sowie der bürgerlich tüchtigen Tugenden und Talente. Damit aber taucht ein Grundproblem auf, das, so bedeutsam sich die Lösungen und Wertungen in Thomas Manns langer Lebens- und Schaffenszeit wandeln, sein gesamtes Werk durchzieht und ein eminent autobiographisches Element in sich schließt. Es ist die an die Romantik, vor allem aber an Schopenhauer und Nietzsche - beide haben ebenso wie die Musik Richard Wagners auf die frühe und mittlere Stufe Thomas Manns entscheidend eingewirkt - anknüpfende Frage: Wie verhält sich die Kunst zur tätig-tüchtigen Normalwirklichkeit des Lebens, wie die Schönheit zu den Forderungen und Gesetzen, auf die sich Bestand und Fortschritt der bürgerlichen Gesellschaft gründen, wie das ausnahmehafte und gefährdete Genie zum gesunden und rechtschaffenen Bürger dem eigentlichen Garanten humaner Prosperität, Ordnung und Sicherheit?

Quelle: "Geschichte der deutschen Dichtung", Fricke / Klotz, Hamburg und Lübeck 1968

 

Wenn vom "großen Sohn" der Stadt Lübeck gesprochen wird, so meint man Thomas Mann, der für seinen Lübecker Bürgerroman "Buddenbrooks" den Nobelpreis bekam.

Aber der Lübecker Senator Mann hatte noch einen schriftstellernden Sohn, den um vier Jahre älteren Heinrich. Man spricht in Lübeck nicht viel von ihm, waren doch seine politischen Anschauungen ein wenig "gediegen". ...

Heinrich Manns sozialrevolutionäre Anschauungen traten früh zutage. Und das Lübecker Kaufmannstum bot sich ihm als Musterbeispiel für kapitalistische Geldgier geradezu an.

Der achtzehnjährige Heinrich Mann veröffentlichte eine ... Skizze mit dem Titel "Phantasien über meine Vaterstadt L." Darin beschreibt er die "merkantilen Gerüche", den "Millionengestank" Lübecks. Da heißt es: "Ich kann es zur Ehre meiner Vaterstadt sagen - dieselbe riecht wahrhaft wohlhabend, stinkt sozusagen behäbig."

Geschildert hat Heinrich Mann dieses Bürgerleben dann in seinem Roman "Eugénie oder Die Bürgerzeit". Und obgleich Lübeck nie genannt wird, ist dieser Roman, wie "Buddenbrooks", ein Schlüsselroman. Der erfolgreichste Industrielle der Hansestadt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der Senator Possehl, erscheint hier als Pidohn, eine im Sinne des "königlichen Kaufmanns" recht zweifelhafte Erscheinung, deren glanzvoller Aufstieg denn auch mit seiner Verhaftung endet. Auch der Senator Possehl saß lange Zeit in Untersuchungshaft, weil man ihm vorwarf, daß eines seiner schwedischen Werke während des ersten Weltkriegs Material an den Feindstaat Japan geliefert habe. In einem Verfahren vor dem Reichsgericht wurde Possehl freigesprochen, einer seiner nächsten Mitarbeiter allerdings verurteilt. Und wer aus einer alt eingesessenen Familie stammt, weiß von den vielzähligen Gerüchten, die wohl mehr als nur Gerüchte waren, wonach Possehl nur freigesprochen wurde, weil sein Prokurist alle Schuld entgegen den tatsächlichen Verhältnissen auf sich nahm, wofür er dann nach Verbüßung der Haft jenes verwunschen anmutende Grundstück Ecke Fackenburger Allee und Bei der Lohmühle erhielt (Hotel "Astor"), in dem noch zwei Generationen später eine Loge tagte.....

 

"Da er Raat hieß, nannte die ganze Schule ihn Unrat." So beginnt ein anderer Roman von Heinrich Mann, der den Schauplatz Lübeck, obgleich die Stadt auch hier nicht genannt wird, ebensowenig verleugnen kann wie die "Eugénie".

"Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen" gehört zu den populären Werken von Heinrich Mann. Und doch erlangte der Roman nie den weltweiten Ruhm wie der nach ihm gedrehte Film "Der blaue Engel" mit Marlene Dietrich und Emil Jannings.

Der Roman vom Schultyrannen Unrat ist der Roman der "Entsittlichung einer ganzen Stadt". Der gefürchtete Pauker, der sich, 57 Jahre alt, in die Tingeltangelsängerin Rosa Fröhlich verliebt, sie heiratet und dann mit Glücks- und geheimnisvollen "Pfänderspielen" die Honoratioren der Stadt in sein Haus zieht, weidet sich nach seinem eigenen Sturz, der zwangsläufigen Entlassung aus dem Schuldienst, mit "tückischer Trockenheit" an dem "Gewühl der um die Wette nach dem Bankrott, der Ächtung, dem Galgen Laufenden". Des Tyrannen Ernte ist reich: Konsul Breetpoot unterschlägt Mündelgelder, der Weinhändler Lorenzen macht Bankrott, der Zigarrenhändler Meyer begeht Wechselfälschungen.

Und nach einem turbulenten Karnevalsfest müssen sich "drei Frauen der guten Gesellschaft und zwei junge Mädchen zu einem, wie man fand, verfrühten Landaufenthalt" zurückziehen. In der Phantasie der Stadt umkleidet sich Unrats Haus, die Stätte dieser seltsamen Vergnügungen, "mit Fabelschimmer".

Quelle: "Lübeck Ansichtssache - Lieb- und Lästerliches über eine wundersame Stadt", zusammengestellt und kommentiert von Peter Beuning, Lübeck 1969

 

Professor Unrat ist vor allem anderen ein durch die menschenunwürdige Gesellschaft, zu deren Willensvollstreckern er zeitweilig gehört, "ungeratener" Mensch. Charakter und äußere Erscheinung dieses gemiedenen, scheelsüchtigen, verstaubten Gymnasiallehrers, dieses nicht harmlosen, sondern gefährlichen Sonderlings, bieten ein bejammernswertes Bild der Deformation, das bei jedem lauten Nennen seines Spitznamens, den sogar seine Kollegen verwenden, auf ihn zurückfällt. ...

Er braucht nicht zu fürchten, daß er sich ... in einen Widerspruch zu seinen Auftraggebern begibt, im Gegenteil: Er darf die persönliche Macht über seine Schüler-Untertanen als Tribut auffassen, der ihm als dem Lehrer-Untertanen und Vollzugsorgan der Autorität vom militaristischen preußischen Beamtenstaat geschuldet wird. Erst der Anarchist, der sich aus ihm herausschälen wird, enthüllt den ganzen Groll gegen die Mächtigen der Gesellschaft, den er als Lehrer an ihren Kindern schon ausläßt, während er noch die Machtverhältnisse, die ihn zum charakterlichen Krüppel werden ließen, masochistisch anbetet wie später ein "Heßling" im "Untertan". ...

Wenn "Unrat" nun mit beachtlicher Courage eigene Wege geht, verletzt er gröblich die Satzungen des Systems, dessen Nutznießer, Opfer und Werkzeug er in einem war. Sein Werk, die Erziehung zu Spitzelei und Denunziation, richtet sich gegen ihn, den Ausbrecher; aber auch er, das weggeworfene Werkzeug, richtet sich gegen seine einstigen Benutzer. Nach seiner Entlassung aus dem Amt erwacht in ihm der von Anfang an zum Sprung bereite Anarchist. ...

Heine-Verehrung und ein patrizisches Elternhaus lassen in "Lohmann" die Gestalt erkennen, mit der sich Heinrich Mann am weitesten identifiziert. ...

Bei seinem Erscheinen hatte das Buch kaum ein Echo gefunden. Lediglich in Lübeck fühlte man sich erkannt und unliebsam ausgestellt: "Das sei alles ganz und gar verstiegen und übertrieben", redeten die biederen Hanseaten sich ein und einander vor ... Natürlich durften die Primaner des Lübecker Katharineums auf keinen Fall dieses gefährliche Buch lesen. Das schamhafterweise auch nie offen ausgesprochene Verbot hatte selbstverständlich zur Folge, daß ein zerlesenes Exemplar des Werkes ständig unter den aufgeweckten Schülern der oberen Klassen zirkulierte.

Quelle: "Heinrich Mann", Volker Ebersbach, Leipzig 1978