Der Fall Remarque
Die heutige Blüte des
Nationalismus in Deutschland hat zwar nicht den allgemeinen Geist gehoben, wohl
aber die Technik der Ehrabschneiderei vervollkommnet. Das ist eine Kunst, die
aus dem Nichts viel hervorzaubert; sie glänzt am stärksten dort, wo gar kein
Stoff vorhanden ist, wo ihre Anwürfe unklar bleiben, von den Beweisen ganz zu
schweigen, und wo der Verdächtige trotzdem als ein Abgestempelter herumläuft,
unfähig, sich zu verteidigen. Gegen einen körperlichen Angriff kann man sich wehren,
nicht gegen ein Odium, nicht gegen ein Achselzucken, nicht gegen die vielwissende
Miene: «Man weiß ja.. »
Seit Jahr und Tag wird mit
aller Energie gegen den Schriftsteller Erich Maria Remarque gehetzt, dem nicht
verziehen wird, daß er einen Frontroman in den unfreundlichen Farben der
Wahrheit geschrieben hat. Seitdem ist man unablässig bemüht, ihm etwas
anzuhängen. Da er nachweislich keine groben Kriminalverbrechen begangen hat,
versucht man es mit Kleinigkeiten. Remarque soll nicht Remarque heißen, sondern
anders. Aus dem Recht des Schriftstellers auf ein Pseudonym wird plötzlich eine
suspekte Sache. Auf dieser Linie bewegte sich lange Zeit der sogenannte Kampf
um Remarque.
Jetzt hat man endlich einen
fetteren Happen. Remarque soll Kapital verschoben haben. Wenigstens sind auf
eine Denunziation hin Vermögenswerte von ihm bei der Danatbank beschlagnahmt
worden. Zwar dämpfte eine Erklärung seines Rechtsbeistandes den Sensationswert
dieser Nachricht etwas, aber sogleich war doch ein neues Schlagwort da:
«Remarque lebt im Ausland, er zieht es vor, das mit seinem Buche verdiente Geld
anderswo zu verzehren, anstatt es seinem notleidenden Vaterland zukommen zu
lassen.» Lebte Remarque hier in Deutschland, so würde es gewiß heißen: Remarque
praßt, während Hitler im Kaiserhof darbt! Wahrscheinlich wird sich auch die
Sache mit dem verschobenen Kapital am Ende als Verleumdung herausstellen, aber
wenn die Lüge auch zerplatzt, ihr Geruch bleibt, und er bleibt nicht an dem
haften, der sie aufgebracht hat.
Kapitalverschiebung, das hört
sich nicht schön an, und ist Remarque schuldig, so wird ihn das Gesetz zur Ader
lassen müssen. Aber rechtfertigt das eine große Pressehetze? Handelte es sich
nicht um einen bekannten und erfolgreichen Schriftsteller sondern um den schwerreichen
Kommerzienrat X, so würde man lächelnd sagen: «Aha, der kleine Verkehrsunfall
eines sonst tüchtigen Geschäftsmannes!» und zur Tagesordnung übergehen.
Eine bestimmte idealistisch
verkitschte Auffassung sieht den Künstler noch immer erhaben über die
materiellen Notwendigkeiten des Lebens. «Willst du in meinem Himmel mit mir
leben, so oft du kommst, er soll dir offen sein!» , so dichtete der selige
Schiller, und er hat damit namenloses Unheil angerichtet. Denn unsre Klassiker,
deren Geist so hoch flog, waren im Leben durchweg arme verprügelte Untertanen,
die sich in den reinen griechischen Äther schwangen, um zu vergessen, daß sie
schließlich von der Laune eines Gönners oder von einem tristen
Professorengehalt existieren mußten. Deshalb war Schiller nur konsequent, wenn
er den Künstler endgültig aus der Welt verbannte, in der die Prozente verteilt
werden. Und deshalb gibt es immer ein so großes und peinliches Erstaunen, wenn
der Künstler plötzlich wie ein hungriger Spatz aus dem Blauen geflattert kommt
und sich ein Stück Torte vom Tisch holt.
Der Künstler hat jedoch das
gleiche Anrecht auf die allgemeinen Gebrechen wie ein jeder in andrer Branche
tätige Mitmensch. Man verübelt es einem Maler, wenn er rechnen kann wie ein
Bankier, man ist enttäuscht von einem Dichter, der für seine Auslandskonten
sorgt, als wäre er ein national gesinnter Wirtschaftsführer. Da zerbricht man
sich den Kopf über einen ehrenwerten alten Schriftsteller von streng
konservativer Anschauung, der sein Haus angezündet hat, um die
Versicherungssumme zu erlangen, und weil keine Anzeichen sichtbar sind, daß er
plötzlich Bolschewik oder Antimilitarist geworden ist, sagt man einfach, er
könne nicht mehr bei gesundem Verstande sein. Wirklich geisteskrank? Der Ärmste
handelte nicht anders als ein kleiner Geschäftsmann, der sich am Ende weiß,
keine Hilfsmittel mehr sieht und in einem desperaten Anfall das Glück mit einem
törichten Gewaltstreich zu korrigieren versucht. Früher lag die Sündendomäne
des Künstlers in den weiten Gebieten der Erotik. Heute wäre ein Fall Oscar
Wilde nicht mehr möglich, und zwar nicht, weil wir freiheitlicher oder
toleranter geworden sind, sondern weil wir andre Sorgen haben. Die Sünden
dieser Zeit sind ökonomische. Auch der Künstler wird nur seiner sozialen Kategorie
entsprechend reagieren. Es ist Dummheit und Heuchelei, ihn härter zu
beurteilen, nur weil er von Berufs wegen gleichsam der Menschheit Würde zu
vertreten hat.
Niemand wird jemals enträtseln
können, warum grade Erich Maria Remarque in der Agitation der Rechten zu einer
Art von Plakatscheusal geworden ist. Sein Kriegsroman ist gewiß eine glänzende
Leistung, voll von wirklichkeitsnahen Schilderungen ‑ aber um Tat zu
werden, dazu fehlt der Rest, auf den es ankommt. Auch ohne mit dem Spachtel
aufgetragene Tendenz muß ein Roman, der das stärkste Erlebnis einer Generation
behandelt, aus der Literatur in die Politik hineinwirken. Das ist nicht
geschehen, das Buch ist nur eine interessante isolierte Leistung geblieben.
Seine ungeheure Verbreitung hat dem Nationalismus keinen Abbruch getan. Es ist
im Grunde effektlos vorübergerauscht. Es ist als eine Modesache aufgenommen, so
gelesen und wieder weggelegt worden.
Vielleicht ist das Verhalten
des Autors daran nicht unschuldig. Es war von Remarque gut und geschmackvoll,
daß er dem fatalen Tagesruhm auswich, der mit einem solchen Erfolg
unvermeidlich verknüpft ist. Es war verhängnisvoll, daß er vor den Kämpfen
kniff, die eine ebenso unausweichbare Konsequenz seines Erfolges waren. Den
Angriffen auf den Roman, auf den Film, der danach gedreht wurde, setzte er ein
beharrliches Schweigen entgegen. Während alles Stellung nahm, zog er sich
selbst in eine bequeme Neutralität zurück, Freunden und Widersachern die
Streitfrage überlassend, wie der Roman nun eigentlich gemeint sei. Die Haltung,
die einem ruheliebenden Ästheten neidlos gegönnt sein mag, wird einem
Schriftsteller nicht leicht durchgehen, der an das erregendste Thema unsrer
Tage gerührt hat, der künstlerisch gestaltend an das gerührt hat, was
Deutschland bis heute in zwei Teile spaltet: ‑ an den Krieg.
Es ist eine Albernheit,
Remarque vorwerfen zu wollen, er verzehre sein Geld nicht in Deutschland. Das
kommt aus der Begriffswelt von Käsehändlern, die böse sind, wenn bei der
Konkurrenz gekauft wird. Es ist kein besseres Argument gegen Remarque, ihm
nachzuschreien, er wäre aus Deutschland geflohen. Denn Deutschland ist heute
eine Gasse, in der dumme Jungen mit Steinen und Dreck werfen. Wer es nicht
nötig hat, macht einen Umweg. Remarque ist nicht aus Deutschland geflohen,
sondern aus der Zeit. Er hat die Verpflichtung ignoriert, die in seiner Arbeit
und in seinem Erfolge lag. Das ist der ernste Einwand gegen ihn. Das ist der
wirkliche Fall Remarque.
Das Buch ist heute schon
vergessen. Sein Verfasser wäre es auch, wenn nicht die rachsüchtige Bosheit der
Chauvinisten ihn immer wieder in Erinnerung brächte. Warum dieser Haß gegen den
Autor von «Im Westen nichts Neues»? Das ist, wie gesagt, kaum zu beantworten.
Vielleicht fühlen die auf der andern Seite, welch gewaltige Waffe dieses eine
Buch hätte werden können mit einem Manne dahinter. Aber dieser Mann war nicht
da sondern nur ein Glückskind, das einen Zufallstreffer gemacht und sich
daraufhin sofort ins Privatleben zurückgezogen hat.
Quelle: Carl von Ossietzky in "Die Weltbühne", 12. April 1932
Anmerkung: Als ich vor Jahrzehnten die Verfilmung
von Remarques "Im Westen nichts Neues" zum ersten Mal sah, war ich
tiefbewegt, weil mein Großvater ein ähnliches Schicksal erlitt, wie die Hauptfigur
des verfilmten Romans. Opa überlebte über dreieinhalb Jahre Frontkampf, um dann
doch noch im April 1918 in Flandern zu fallen. Den Brief seines Kompanieführers
mit der Todesnachricht an meine Urgroßeltern, mit Bleistift offenbar im
Schützengraben gekritzelt, verwahre ich für nachfolgende Generationen.
Gelesen habe ich von Remarque "Arc de Triomphe"
- auch vor über 30 Jahren. Davon hängengeblieben ist nur die Lebensweisheit,
daß es mehr Huren unter den Frauen gibt, die nie etwas mit einem Mann gehabt
haben als unter denen, die daraus einen traurigen Broterwerb machen. In Erinnerung
kam mir dieser Spruch anläßlich einer der vielen Ehrungen für Marlene Dietrich,
der preußischen Offizierstochter mit ihrer unübertrefflichen Darstellung der
"Künstlerin Fröhlich" im "Blauen Engel". Marlene war
nämlich zeitweilig mit Remarque liiert und als er ihr nach der üblichen
"Schonfrist" gestand, er sei impotent, sagte sie: "Oh, wie
wunderbar!"