Rede auf Puschkin

 

Fjodor Michailowitsch Dostojewski am 8. Juni 1880

 

>Puschkin ist eine außergewöhnliche Erscheinung und vielleicht der bisher einzige Ausdruck des russischen Geistes<, sagt Gogol. Ich füge von mir aus hinzu: und zwar ein prophetischer Ausdruck. Ja, in Puschkins Erscheinen liegt für uns alle, uns Russen, etwas zweifellos Prophetisches. Puschkin kam uns in einer Zeit, als sich zum ersten Male so etwas wie Selbsterkenntnis in unserer Gesellschaft hervorzuwagen begann, ein ganzes Jahrhundert nach der Reform Peters, und sein Erscheinen wirkte wie eine Überleuchtung unseres dunklen Weges mit neuem und bahnweisendem Licht. In diesem Sinne ist Puschkin in der Tat eine Prophezeiung und ein Programm zugleich ...

 

Es ist wahr, die europäische Literatur hat Genies von ungeheurer Größe aufzuweisen ‑ hat Männer wie Shakespeare, Cervantes, Schiller. Aber man nenne mir doch nur einen von diesen Großen, der eine solche Fähigkeit, das Wesen fremder Nationalitäten wiederzugeben, besessen hätte, wie unser Puschkin. Gerade diese Fähigkeit, diese Hauptfähigkeit unserer Nationalität, teilt Puschkin mit unserem ganzen Volk, und gerade sie macht ihn zu unserem nationalsten Dichter.

 

Selbst die größten europäischen Genies haben niemals vermocht, den Geist und das Wesen eines fremden Volkes, ja nicht einmal eines blutverwandten Nachbarvolkes, seine Seele, die ganze verborgene Tiefe dieser Seele und das Innerste dessen, wozu jedes Volk berufen ist, mit solcher persönlichen Schöpferkraft aus sich selbst heraus zu gestalten, wie es Puschkin gelang. Die europäischen Genies haben im Gegenteil, wenn sie sich anderen Völkern zuwandten, die fremde Nationalität gewöhnlich in ihre eigene verwandelt und nach den Begriffen ihrer Nation aufgefaßt. Sogar bei Shakespeare sind zum Beispiel die Italiener fast ohne Unterschied ‑ Engländer. Nur Puschkin besitzt vor allen Dichtern der Welt die Fähigkeit, sich vollständig in den Geist einer fremden Nation zu versetzen. Nehmen Sie seine Faustszene, nehmen Sie sein Poem >Der geizige Ritter< und die Ballade >Einst lebte ein armer Ritter< ... Lesen Sie seinen >Don Juan<, und wenn Sie nicht wüßten, daß er von Puschkin ist, würden Sie gewiß nicht erraten, daß ihn ‑ kein Spanier gedichtet hat. Und was sind das für tiefe, unheimliche Stellen in seinem Poem >Das Fest während der Pest<! Aus diesen phantastischen Gestalten spricht das Genie Englands. Dieses prachtvolle Pestlied des Helden, und dieses Lied der Mary ‑ das sind englische Lieder, das ist der Schauer des britischen Genies, seine Klage, sein qualvolles Ahnen dessen, was seiner harrt. Erinnern Sie sich der Verse: >Einst kam ich in ein ödes Tal ‑ <

 

Es ist fast eine wörtliche Übertragung der drei ersten Seiten eines seltsamen mystischen Buches, das ein alter englischer Sektierer vor langer, langer Zeit in Prosa geschrieben hat ‑ aber ist es nun wirklich nur eine Übertragung? Aus der traurigen und gleichsam geisterfüllten Musik dieser Verse fühlt man förmlich die Seele des nordischen Protestantismus in der Seele dieses keltischen Sektenstifters, dieses uferlosen Mystikers mit dem stumpfen, finsteren und unbesiegbaren Wollen in der unbegrenzten und geheimnisvollen Phantasie. Beim Lesen dieses seltsamen Gedichtes ist es einem, als spüre man den Geist der Reformationszeit, dieses kriegerische Feuer des frühesten Protestantismus, und begreiflich wird einem schließlich auch die Geschichte selbst, und zwar nicht nur durch ein gedankliches Verstehen, sondern es ist, als wäre man selber dabeigewesen, als wäre man soeben am Lager der bewaffneten Sektierer vorübergegangen, als hätte man mit ihnen Hymnen gesungen, mit ihnen Tränen der Begeisterung vergossen, mit ihnen an das geglaubt, woran sie glaubten. Und neben diesem religiösen Mystizismus stehen religiöse Verse aus dem Koran, die >Nachdichtungen aus dem Koran<: spricht aus diesen nicht ein Mohammedaner, nicht der Geist des Korans selber, und seines Schwertes, der in Einfalt erhabene Glaube und seine grausig blutige Kraft? Dann wieder haben wir die antike Welt in den >Ägyptischen Nächten<. Da verspüren wir die irdischen Götzen, so wie sie waren, die Götzen, die sich über ihrem Volk als Götter festgesetzt, die das Genie ihres Volkes und sein Streben bereits verachten, die an ihr Volk nicht mehr glauben und darüber einsame Götter geworden sind und in ihrer Einsamkeit, in ihrer dem Tode vorangehenden Langweile und Geistesarmut sich mit fanatischen, tierischen Roheiten, mit der Wollust niedriger Insekten, der Wollust eines Spinnenweibchens, das sein Spinnenmännchen auffrißt, die Zeit vertreiben. Nein, ich sage in allem Ernst: es hat noch keinen Dichter gegeben, der so wie Puschkin die ganze Welt in sich aufgenommen hätte. Doch nicht die Aufnahmefähigkeit im allgemeinen ist hier das Erstaunliche, sondern seine ganz unglaubliche Tiefe, das vollständige Sichhineinversetzen seines Geistes in den Geist fremder Völker, die fast vollkommene und deshalb so erstaunliche >Verwandlung<, eine Erscheinung, die sich bei keinem einzigen anderen Dichter wiederholt hat. In der Tat finden wir sie nur bei Puschkin und in diesem Sinne ist er, wie ich bereits sagte, eine noch nie dagewesene Erscheinung und unserer Meinung nach eine prophetische, denn eben darin hat sich am stärksten seine nationale russische Kraft geäußert, gerade die Volkstümlichkeit seiner Dichtung, das nationale Moment in der gesamten weiteren Entwicklung, das nationale Moment unserer Zukunft, das in der Gegenwart noch nicht an den Tag getreten ist, und das sich, wie gesagt, hier zum ersten Male prophetisch geäußert hat. Denn wo läge sonst die Kraft des russischen Volksgeistes, wenn nicht in seinem Streben zur Universalität und nach Allmenschlichkeit? Als Puschkin zum Dichter seines Volkes wurde, da begann er, sobald er nur mit dem Volksgeist in Berührung kam, sofort die große Bestimmung dieser Kraft zu ahnen. Hierin ist er ein Enträtsler und hierin ist er auch ein Prophet.

 

Denn, was bedeutet für uns die Reform Peters? Nicht nur im Hinblick auf unsere Zukunft, sondern auch in unserem Verhältnis zur Vergangenheit, zu allem, was bereits geschehen ist, was sich vor unseren Augen vollzogen hat? Was war sie uns? Sie war doch nicht nur eine Aneignung europäischer Kleider, Sitten, Erfindungen und der europäischen Wissenschaft. Erfassen wir recht, was sie war und wie sie war, betrachten wir sie aufmerksamer. Ja, es ist sehr leicht möglich, daß Peter sie anfänglich nur in diesem Sinne einführte, ich meine in eng militaristischem Sinne ‑ aber in der Folge, bei der weiteren Entwicklung seiner Idee, hat Peter sich fraglos von einem gewissen unbewußten Instinkt leiten lassen: der aber zog ihn zu zukünftigen und selbstverständlich zu großen Zielen. Ebenso hat auch das russische Volk nicht etwa nur aus Utilitarismus die Reform angenommen, sondern mit einer gewissen Vorahnung, ein viel weiteres, ein unvergleichlich höheres Ziel zu erreichen, als es der nächstliegende Utilitarismus je sein könnte, das hat es herausgefühlt ‑ natürlich gleichfalls unbewußt, aber doch unmittelbar und mit voller Lebenskraft. Da setzte dann mit einemmal dieses Streben ein: zur lebendigen Wiedervereinigung der Menschen, zu einer, sagen wir, universalen Einigung! Nicht feindlich (wie man es hätte erwarten können), sondern freundschaftlich, mit ganzer Liebe nahmen wir das Genie, den Schöpfergeist der fremden Völker in unsere Seele auf, aller Völker, so viel es ihrer nur gab, ohne Rassenunterschiede zu machen und die einen den anderen vorzuziehen, da unser Instinkt fast schon vom ersten Schritt an die Widersprüche zu unterscheiden, das Fremde einzuschätzen und die Unterschiede zu entschuldigen verstand: allein damit haben wir unsere Fähigkeit und Neigung (die uns selbst noch neu und unbewußt waren) zur Wiedervereinigung aller Völker der großen arischen Rasse bezeugt. Ja, die Bestimmung des russischen Menschen ist unstreitig eine universale. Ein echter, ein ganzer Russe werden, heißt vielleicht nur (d. h. letzten Endes, vergessen Sie das nicht) ‑ ein Bruder aller Menschen werden, ein Allmensch, wenn Sie wollen. Oh, unsere ganze Spaltung in Slawophile und Westler ist ja nichts als ein einziges großes Mißverständnis, wenn auch ein historisch notwendiges. Einem echten Russen ist Europa und das Geschick der ganzen großen arischen Rasse ebenso teuer wie Rußland selbst, wie das Geschick des eigenen Landes, eben weil unsere Bestimmung die ‑ wenn man sich so ausdrücken darf ‑ Verkörperung der Einheitsidee auf Erden ist, und zwar nicht einer durch das Schwert errungenen, sondern durch die Macht der brüderlichen Liebe und unseres brüderlichen Strebens zur Wiedervereinigung der Menschen verwirklichten Einheit. Verfolgen Sie unsere Entwicklungsgeschichte nach der Reform Peters und Sie werden bereits Spuren und Andeutungen dieses Gedankens, meines Traumes, wenn Sie wollen, in der Art unseres Umgangs mit den europäischen Nationen, ja, sogar in unserer auswärtigen Politik finden. Denn was hat Rußland in diesen ganzen zwei Jahrhunderten seit Peter mit seiner Politik anders getan, als Europa gedient, und zwar vielleicht in einem noch viel größeren Maße als sich selbst? Ich glaube nicht, daß dies nur infolge der Talentlosigkeit unserer Diplomaten geschehen ist. Die Völker Europas wissen ja nicht einmal, wie teuer sie uns sind! Und ich baue fest darauf, daß wir in Zukunft, d. h. natürlich nicht wir, sondern die künftigen Russen bereits alle ausnahmslos begreifen werden, daß ein echter Russe sein nichts anderes bedeutet, als sich bemühen, die europäischen Wider­sprüche in sich endgültig zu versöhnen, der europäischen Sehnsucht in der russischen allmenschlichen und allvereinenden Seele den Aus­weg zu zeigen, in dieser Seele sie alle in brüderlicher Liebe aufzunehmen und so vielleicht das letzte Wort der großen, allgemeinen Harmonie, des brüderlichen Einvernehmens aller Völker nach dem evangelischen Gesetz Christi auszusprechen. Ich weiß, ich weiß, daß meine Worte, in der Begeisterung gesprochen, wie sie sind, übertrieben und phantastisch erscheinen können. Nun wohl, mögen sie es sein, aber ich bereue nicht, sie ausgesprochen zu haben. Sie mußten einmal ausgesprochen werden, und zwar gerade jetzt, im Augenblick unseres Triumphes, in dem Augenblick, wo wir unseren großen genialen Toten ehren, der gerade diesen Gedanken in seiner ganzen schöpferischen Kraft verkörperte.

 

Übrigens ist dieser Gedanke schon mehr als einmal geäußert worden. Ich habe daher gar nichts Neues gesagt. ‑ Am meisten wird man freilich daran Anstoß nehmen, daß er allzu selbstbewußt scheinen könnte: >Was, uns, unserem bettelarmen, unkultivierten Lande, fiele eine solche Aufgabe zu? Uns wäre es bestimmt, der ganzen Welt ein neues Wort zu sagen?< Ja, rede ich denn von ökonomischen Erfolgen, von Erfolgen des Schwertes und der Wissenschaft? Ich rede doch nur von der Brüder­lichkeit der Menschen und davon, daß zur universalen brüderlichen Einigung das russische Volk vielleicht am meisten von allen anderen veranlagt und bestimmt ist, und daß ich in unserer Geschichte, in unse­ren begabten Männern und im schöpferischen Genie Puschkins die Beweise dafür sehe. Mag unser Land arm sein, aber dieses arme Land >durchwandert Christus in Bettlergestalt<. Ja, warum sollten wir nicht trotz unserer Armut sein letztes Wort in uns tragen können? Hat nicht auch er im Stall in einer Krippe geruht?

 

So wiederhole ich: wir können wenigstens schon auf Puschkin, auf die Universalität und Allmenschlichkeit seines Genies hinweisen. Ver­mochte er doch das Genie jedes fremden Volkes wie ein ihm nahe verwandtes in seine Seele aufzunehmen. Und in der Kunst, im künst­lerischen Schaffen hat er dieses Streben des russischen Geistes zur Uni­versalität unstreitig bewiesen, darin aber liegt schon ein großer Hinweis für uns. Sollte unser Gedanke auch nur ein phantastischer Glaube sein, so haben wir in Puschkin doch wenigstens etwas, woraus dieser Glauben entstehen, worauf er fußen könnte. Wäre Puschkin nicht so jung gestorben, er hätte uns vielleicht noch große und unsterbliche Gestalten der russischen Seele offenbart, die unseren europäischen Brü­dern verständlicher sein, die sie uns näher bringen würden, als sie uns jetzt stehen. Er hätte ihnen vielleicht die ganze Wahrheit unserer Bestrebungen erklärt, und sie würden uns jetzt besser verstehen, hätten es leichter, unser Wesen zu deuten und sie würden eher aufhören, so mißtrauisch und hochmütig auf uns herabzusehen, wie sie es jetzt tun und noch lange tun werden. Hätte Puschkin länger gelebt, dann gäbe es vielleicht auch zwischen uns Russen weniger Mißverständnisse und Streitigkeiten, als es ihrer jetzt zwischen uns gibt. Aber Gottes Ratschluß war anders. Puschkin starb in der Blüte seiner Jahre und seines Könnens und hat fraglos ein großes Geheimnis mit sich ins Grab genommen, so daß wir jetzt versuchen müssen, dieses Geheimnis ohne ihn zu erfassen.