Otto Reutter
Ein schlecht rasierter Mann
mit Stielaugen, der aussieht wie ein Droschkenkutscher, betritt in einem
unmöglichen Frack und ausgelatschten Stiefeln das Podium. Er guckt dämlich ins
Publikum und hebt ganz leise, so für sich hin, zu singen an.
Diese
Leichtigkeit ist unbeschreiblich. Es ist gar nicht einmal alles so ungeheuer
witzig, was er singt, das kann es wohl auch nicht, denn er singt da gerade das
zweitausendvierhundertachtundzwanzigste Couplet seines Lebens, und so viele
gute gibt es nicht: aber dieser Fettbauch hat eine Grazie, die immer wieder
hinreißt.
Die Pointen fallen ganz leise, wie Schnee bei Windstille an einem stillen Winterabend. Von den politischen will ich gar nichts sagen. Der Mann hat im Kriege geradezu furchtbare Monstrositäten an Siegesgewißheit von sich gegeben — so die typische Bierbankseligkeit des Hurras, die zu gar nichts verpflichtete, bei der schon das Mitbrüllen genügte. Und wenn er heute politisch wird, dann sei Gott davor. Nicht, weil mir die Richtung nicht paßt — sondern weil die Texte verlogen sind.
Diese
Pille vorweggenommen: Welch ein Künstler —! Alles geht aus dem leichtesten
Handgelenk, er schwitzt nicht, er brüllt nicht, er haucht seine Pointen in die
Luft, und alles liegt auf dem Bauch. Ein Refrain immer besser als der andre —
wie muß dieses merkwürdige Gehirn arbeiten, daß es zu jeder lustigen Endzeile
immer noch eine neue Situation erfindet. Und was für Situationen!
Ein
Refrain hieß: «In fünfzig Jahren ist alles vorbei!» Heiliger Fontane, hättest
du eine Freude gehabt! — Die Melodie blieb auf <vorbei> in der Terz
hängen — erst das Klavier endete sie, und er stand da und machte ein dummes
Gesicht. Und sah aus wie ein Kuhbauer und entzückte und charmierte durch seine
Grazie. Wenn dich der Zahnarzt, sang er, an einem Zahn durchs Zimmer schleift,
und es will gar nimmer enden — «dann mach dir nichts aus der Schweinerei, denn
in fünfzig Jahren ist alles vorbei ...!»
Und
dann ein Lied, meisterhaft, in total besoffenem, von nichts ahnendem Tonfall
gesungen: «Ick wunder mir über jahnischt mehr—!» Abends käme er nach Hause,
sang er, und da —
Da steht vor
meine Kommode 'n Mann —
Der sagt: «Sie!
Fassen Se mal mit an!
Alleene is mir
det Ding zu schwer...»
Ick wunder mir über jahnischt mehr — Und dazu ein Mondgesicht,
unbeteiligt, mild leuchtend durch die Wolken — was soll man dazu sagen?
Die Leute sagen auch gar nichts, sondern liegen
unter dem Tisch, und wenn sie wieder hochkommen, dann verbeugt sich da oben ein
dicker und bescheidener Mann, der gar nichts von sich hermacht, obgleich er ein
so großer Künstler ist.
Quelle: Kurt Tucholsky (1921)
Als Otto Pfützenreuter wurde
er am 24. April 1870 in Gardelegen geboren.
Über die Zeit, die dem Besuch
der Volksschule folgte, berichtet Reutter in seiner Selbstbiographie: „Wollte
zum Theater - Krach mit dem Vater - Kaufmann gelernt - heimlich entfernt.“
Es folgten Wander- und
Lehrjahre, in denen Reutter als Bühnenarbeiter, Aushilfsdichter und Direktor
eines Tingeltangels das Theater in all seinen Schattierungen, bis hin zur
„Schmiere“, kennenlernte. Vielfach der Not gehorchend, verfaßte er bereits
während dieser Zeit kleine Theaterstücke und erprobte seine Fähigkeiten als
Vortragskünstler selbstverfaßter Couplets.
Ein Engagement am Berliner
Apollo-Theater verhalf dem 25jährigen zum Durchbruch. Seine geistsprühenden,
aktuellen Couplets und seine Art aufzutreten unterschieden ihn so sehr von dem
damals üblichen „Kittneesen-Komikern“, daß die Berliner erst erstaunt und
verblüfft waren, dann aber begeistert dem rundlichen Wuschelkopf auf der Bühne
zujubelten. Augenzeugen wissen zu berichten: „Reutter hatte sich nicht komisch
kostümiert, war kaum geschminkt, trat dicht an die Rampe, legte die Hände über
den Bauch und sang, ohne eine Bewegung zu machen, seine Couplets. Eins besser
als das andere. Deftig, urwüchsig, witzig. - So etwas hatte man noch nicht
erlebt.“
Reutters Monatsgagen
erreichten bald Carusosche Höhen. Sein Fleiß blieb indes der gleiche. Als
Reutter am 3. März 1931 starb, hinterließ er über tausend mehrstrophige
Couplets. Reutters künstlerische Begabung fand im kommentierenden,
glossierenden und satirischen Couplet ihren unverkennbar eigenen Ausdruck Die
Perfektion seines Schaffens anerkannte Tucholsky 1921 in der „Weltbühne“ mit
den Worten: „Alles geht aus dem leichtesten Handgelenk, er schwitzt nicht, er
brüllt nicht, er haucht seine Pointen in die Luft, und alles liegt auf dem
Bauch. Ein Refrain immer besser als der andre - wie muß dieses merkwürdige
Gehirn arbeiten, daß es zu jeder lustigen Endzeile immer noch eine neue
Situation erfindet. Und was für Situationen!“
Reutters schöpferische
Unruhe, den großen und kleinen Begebenheiten auf der Spur zu bleiben, äußerte
sich im ständigen Austauschen alter gegen neue aktuelle Verse. So manches
Ereignis des Tages fand sich am Abend in einer Couplet-Strophe wieder.
Chronologisch geordnet,
vermitteln Reutters Couplets aufschlußreiche Einblicke in das
gesellschaftliche Leben der Zeit wilhelminischer Hochkonjunktur. Im Unterschied
zu Kabarettisten wie Rudolf Nelson u. a, die überwiegend für das Amüsement
der mondänen Welt schrieben, wandte sich Otto Reutter mehr
den alltäglichen Ereignissen und dem Leben der werktätigen Schichten
zu. Wenn er in „Herr Neureich“ bissig und satirisch die Borniertheit des
emporgekommenen Bouillon-Fabrikanten enthüllt oder in anderen Couplets auf die
herrschende Wohnungsnot, auf Steuererhöhungen anspielt und die ständigen
Kabinettsumbildungen glossiert, so kam er damit dem Denken und
Fühlen des werktätigen Volkes entgegen. Aus anderen Couplets spricht die
Humanität des Künstlers Otto Reutter, sein Streben, dazu beizutragen,
daß sich die Beziehungen der Menschen untereinander menschlicher gestalten,
ihnen zu helfen, veraltete Moralauffassungen und Lebenshaltungen heiter zu
verabschieden. Hinter dem, was da abläuft wie Wasser einen Berg herunter und
gar nicht anders heißen kann - um mit Tucholsky zu sprechen - , verbirgt
sich tiefe Menschenkenntnis und die einmalige Gabe, Aufgenommenes in
Form eines humoristischen oder nachdenklich stimmenden Couplets wiederzugeben. Sei
es der „Gewissenhafte Maurer“, der „Blusenkauf“ oder die Aufforderung
„Nehm' Se'n Alten“ - es gab kein Thema, das Reutter nicht auf seine originelle
Art umzusetzen verstand.
Im
Streben, aktuell zu sein, ging er nicht immer den Erscheinungen
auf den Grund. So erklärt sich manches Vergängliche und
Kleinbürgerlich-Spießige in seinen Couplets. Gelegentlich
machte er sich sogar zum Apologeten reaktionärer Strömungen der
herrschenden Klasse. Doch was von seinem Schaffen lebendig blieb, das ist
vorwärtsgewandt. Es läßt uns heute noch über nicht überwundene menschliche
Schwächen lachen oder stimmt uns nachdenklich. Reutters Musik ist
volksliedhaft schlicht. Sie paßt sich den Texten nahtlos an und
erlaubt es, ihre Nuancen voll auszukosten. Obgleich Reutter
vielfach geläufige Wendungen heiterer Lieder und Gassenhauer aufgriff und
zusammenfügte, entstand letztlich immer wieder etwas unverkennbar
Eigenes, Originelles. Streng textgebunden, sind Reutters Couplets für
Komponisten eine Fundgrube charakteristischer, heiterer und volkstümlicher
Wendungen, die schöpferisch weitergeführt werden sollten.
Wenn er
uns auch nicht mehr gegenübertreten kann: Seine Stimme, seine Texte und seine
Musik weisen ihn nicht nur als den Klassiker des aktuellen zeitkritischen
Couplets zwischen 1895-1930/31 aus, sondern sie erfreuen uns
heute nicht minder. - Und Otto Reutter? Könnte er diese Zeilen lesen,
würde er die Hände über den Bauch falten, den Kopf schütteln
und singen: „Ick wunder mir über janischt mehr.“
H. P.
Hofmann (1971)
SEITE 1
Wie reizend sind die Frauen
Zwanzig Jahre später
Der Blusenkauf
Die ganze Geschicht', die
lohnt sich nicht
Gräme dich nicht
Der gewissenhafte Maurer
Einmal im Jahr
Ich kann das Tempo nicht
vertragen
SEITE 2
Nehm' Se'n Alten
Der Überzieher
Ick wunder mir
über janischt mehr
Herr Neureich
Es geht mir in jeder Hinsicht
immer besser
Widewitt bumbum
Bevor de sterbst
Quelle: VEB Deutsche
Schallplatten Berlin DDR / LP-Cover „Otto Reutter“ / AMIGA 8 40 088