Jack Kerouac
Die Suche nach Gott
Jack Kerouac, der 1969 im
Alter von knapp 47 Jahren verstorbene große Beat‑Poet ("On the
Road", 1957; "The Dharma Bums", 1958; "Mexico City
Blues", 1959;"Lonesome Traveller", 1960;"BigSur";"Tristessa",
1962) war Bindeglied und Motor des inneren Zirkels der "Beat‑Generation".
Diesen Begriff hatte er 1948 selbst geprägt und damit die zentralen
Lebensgefühle einer literarisch, emotional und sexuell verflochtenen Gruppe
beschrieben, der neben ihm William S. Burroughs, Allen Ginsberg, Gary Snyder und
Neal Cassady angehörten ‑ "beat" heißt einerseits
"niedergeschlagen", sollte aber zugleich als Kurzform von
"beatific" ("glückselig") verstanden werden.
Aber während Kerouac in seinen
Büchern Alltagsnotizen, Erinnerungen, Erlebnisse mit Freunden,
Liebesgeschichten, Drogenexzesse, Sexorgien, ekstatische Visionen und spirituelle
Erweckungserlebnisse in starken, verbalen Bildern schilderte, hat man die
andere Seite dieses Romanciers mit seiner tiefen Sehnsucht nach einem
ursprünglichen, urwüchsigen, unverdorbenen Amerika viel zu lange übersehen. Der
gläubige Katholik beschäftigte sich intensiv mit dem Zen-Buddhismus und setzte
sich auf seiner Suche nach Gott und dem Zauber der Gegenständlichkeit extremen
Erfahrungen aus, die ihn physisch und psychisch in den Ausnahmezustand eines Selbstreflexionsprozesses
über die Grenzen von Literatur und spirituellem Bewußtsein versetzten.
Im Sommer 1956 bestieg er den
"Desolation Peak", einen felsig‑schroffen Berg im Cascades‑Nationalpark
im US-Bundesstaat Washington. Er hatte für 63 Tage einen Job als Aufseher einer
kleinen Feuerwachstation angenommen. In 2.000 Meter Höhe konnte er hier von
seiner zwanzig Quadratmeter großen Hütte aus jene Einsamkeit spüren, die er
später in seinen Romanen so oft thematisierte hat. In "The Dharma
Bums" ("Gammler, Zen und hohe Berge") und "Desolation Angels" beschrieb Kerouac seine
Eindrücke von der unberührten Natur um ihn herum, von den schneebedeckten
Gletschern und der ewigen Freiheit, schilderte seine Alpträume und
Halluzinationen vom Schneemenschen, der den Feuerwächter holt, und
identifizierte und benannte mit Panoramakarte und Fernrohr "all die
magischen Felsen und Schründe": "Das alles gehörte jetzt mir",
schrieb er, "kein zweites menschliches Augenpaar schweifte durch das Rund
dieser materiellen Welt". Die Faszination der Berge ‑ er taufte sie
"Wutberg, Berg der Herausforderung, Berg der Verzweiflung" ‑ lag
für ihn in ihrer göttlichen Majestät, ihrer Reinheit und Unberührtheit und
ihrer spirituellen Natur.
Fast vierzig Jahre später
verbrachte der amerikanische Fotograf John Suiter, der zur Zeit an seinem Buch
"Poets on the Peaks: Jack Kerouac, Gary Snyder & Philip Whalen in the
North Cascades" arbeitet, ebenfalls zwei Wochen allein in der Berghütte
"Desolation Lookout", jener legendären Feuerwachstation aus "The
Dharma Bums". Suiter fand nicht nur das Panorama unverändert vor, auch die
Hütte war noch genauso, wie Kerouac sie geschildert hatte: ohne Strom, Toilette
und fließendes Wasser, mit einem Propangasherd, dem Feuerdetektor und dem alten
Bett, in dem der Dichter seine oftmals schlaflosen Nächte verbrachte.
Während Kerouac zum Schreiben,
Lesen und Meditieren auf den "Gipfel der Verlassenheit" gestiegen
war, benutzte Suiter, der Kerouacs Spuren schon seit einigen Jahren bis nach
Mexiko folgte, die Zeit als Feuerwächter, um zu fotografieren. Zum ersten Mal
werden seine Farbfotografien, versehen mit Zitaten aus Kerouacs Werk, nun in
Deutschland gezeigt. Neben Bildern von Kerouacs Heimatstadt Lowell in
Massachusetts und der schäbigen Absteige in Mexiko‑Stadt, in der
"Tristessa" entstand, sind es vor allem die Fotos vom "Desolation
Peak", die einen in ihren Bann ziehen. Es ist eine seltsam materielle und
gleichzeitig spirituelle Welt - ein Phänomen, das schon Kerouac faszinierte ‑,
die Suiter dem Betrachter präsentiert: Landschaftsaufnahmen von berückender
Schönheit, der "Hozomeen Mountain", der den Dichter in nächtliche
Halluzinationen trieb, einsame Schneefelder und die Feuerwächterhütte, umgeben
von Felsen, schroffen Graten und nichts als Leere. Eine merkwürdige Magie geht
von diesem Ort aus, und man beginnt zu verstehen, daß dieses Panorama Kerouac
als Motiv für einige seiner Werke diente. Der Außenseiter, Lebenskünstler und
Poet der Gescheiterten empfing hier seine wegweisende Inspiration: die
Initiation des Dichters in seine Rolle als spirituelles Medium einer
literarischen Epoche.
Dreizehn Jahre später hatte er sich, aufgedunsen
vom Alkohol, von Krankheiten und Drogen geschwächt, ins Haus seiner Mutter
zurückgezogen, das ihm ‑ einem Kokon ähnlich ‑ Schutz vor dem eigenen
Mythos geben sollte. Es wurde zur letzten Station seiner lebenslangen Wanderung.
Am Ende holten ihn die alten Dämonen, die er einst in den Alpträumen seiner
einsamen Nächte auf dem "Desolation Peak" halluziniert hatte, für immer
ein. Auf dem Edson‑Friedhof in seinem Geburtsort South‑Lowell liegt
die letzte Ruhestätte des Dichters. Suiter hat auch den Grabstein fotografiert,
der mit einer roten Rose, einem Päckchen Tabak, einem Zigarettenstummel, einer
Flasche Portwein, einer zerdrückten Bierdose, einem Jack Daniels-Flachmann
und den unvermeidlichen Benzedrin‑Tabletten hübsch dekoriert mit jener Inschrift
versehen ist, die mehr über Kerouac erzählt, als alle Hommagen und Vernissagen
es vermögen: "He honored Life."
Quelle: WERNER OLLES in JUNGE FREIHEIT 2001