Heinrich Mann
Von dem Bemühen, Situation und
Problematik des modernen Menschen mit den Mitteln realistischer Tradition,
neugewonnener naturalistischer Verfahrensweisen und moderner Psychologie zu
analysieren, wie es sich von Schnitzler bis zu Wassermann und Hesse verfolgen
läßt, hebt sich die teils ästhetizistisch‑aristokratische, teils
satirisch‑karikaturistische, stets jedoch schroff antibürgerliche
Erzählkunst Heinrich MANNs (1871‑1950) ab. In ihm tritt das romanisch‑mediterrane
Element, das bei seinem jüngeren Bruder Thomas nur ein wechselnd bewertetes
Element seines vielschichtigen Geistes bildet, beherrschend hervor. In der
Nachfolge d'Annunzios, aber auch Stendhals und Flauberts, entstanden Romane wie
die Trilogie Göttinnen (1902/03), die um die Metamorphosen der Herzogin von
Assy von Diana zu Minerva und Venus kreisen und in denen ein aristokratisch‑renaissancehaftes
Übermenschentum der amoralischen Leidenschaft, Schönheit und heroischen
Verruchtheit mit einer zugleich glühenden und eiskalten Sprachvirtuosität ‑
Heinrich Mann war der Lieblingsschriftsteller Gottfried Benns! ‑
vorgetragen wird. Neben diesen kalten Ekstasen üppigster Sinnlichkeit und
bestialischer Schönheit steht die nicht minder übersteigerte, nun aber aus
treffsicherem Haß zu satirischgrotesker Karikatur zusammengestrichene Figur des
"Bürgers", dessen moralische Fassade ein durch und durch morsches
Inneres verhüllt (Professor Unrat, 1905; Die kleine Stadt, 1909) und der den
würdelosen Götzendienst vor "Thron und Altar" mit der brutalen
Ausnutzung und Zerstörung der Schwächeren verbindet (Der Untertan, 1914). Dabei
bleibt freilich ein gewisser Widerspruch bestehen zwischen dem mit allen
ästhetischen Mitteln verherrlichten aristokratischen Macht‑ und
Genußmenschen und der humanitär‑sozialen Verneinung bürgerlicher Schein‑
und Unmoral, die allerdings gerade wegen ihrer heuchlerischen Verlarvung so
verabscheuenswert erscheint. Dennoch kehrt in der Spannung zwischen
ästhetischem Immoralismus und moralistisch‑radikaler Satire etwas von dem
alten Gegensatz von Kunst und Leben wieder, der in der Novelle Pippo Spano zum
tragenden Motiv wird. Eben dieser radikale moralistische und rationale
Aktivismus ließ Heinrich Mann den geschworenen Feind aller militaristischen,
feudalistischen und nationalistischen Reaktion und Unfreiheit, den frühen
Emigranten und leidenschaftlichen Gegner des Nationalsozialismus, nach seiner
Rückkehr nicht die westliche, sondern die östliche Staats‑ und
Gesellschaftsform vorziehen. Der bedeutendste Ertrag seiner amerikanischen
Exilzeit war der historische Roman Die Jugend, Die Vollendung des Königs Henri
IV. (1935‑1938), dessen Darstellungskunst, auf die objektive Bewältigung
eines ganzen Zeit‑ und Weltzusammenhanges gerichtet, die große Tradition
des europäischen Romans im 19. Jahrhundert fortführt und sie zu einer
überzeugenden Nachblüte erweckt.
Quelle: "Geschichte der deutschen Dichtung" von Fricke/Klotz,
14. Auflage, 1968, S. 369 + 371