Heine Novalis Matussek oder das Ende des SPIEGEL

Judith gab mir ein Buch zurück, oder das, was einmal ein Buch gewesen war. Also gewesen sein KÖNNTE. Jetzt sah es eher wie ein zerkochtes Fertiggericht aus.
“Was ist das? Ich meine, was war das?” fragte ich erschrocken.
“Das Buch von Sven Lager, ‘Mein Leben als Wal’, das du mir gegeben hast. Vielen Dank nochmal, ich hab jetzt fertig.”
Alle Bücher, die ich ihr lieh, sahen nach wenigen Tagen so aus. Total zerfleddert, zerlesen, besudelt, mit Fettflecken und Speiseresten versehen, die Seiten oft herausgerissen oder nass und verklebt. Judith las eben sehr intensiv. Ich zog die Augenbraue hoch:
“Na, sehr pfleglich behandelt hast du es ja nicht.”
“Was? Willst du mir auch noch Vorwürfe machen, dass ich dein Scheissbuch gelesen hab?”
“Nein, nein, im Gegenteil.”
Ich konnte mich jetzt nicht mit ihr streiten. Ich mußte einen Artikel über Matthias Matussek schreiben.
“Also, ich muß dir ja sagen, dieses Buch hat einen grossen Nachteil. Ich…”
“Wir müssen später darüber reden.”
Ich erklärte ihr die Sache mit Matussek. Sie gab mir einen Kuß und fragte, ob ich wenigstens bei ihr schlafen würde. Es war bereits dunkel. Sie stand vor mir, die aufgedunsene Schwarte in der Hand, der lange Arm baumelte damit aufreizend hin und her. Ich sagte es zu. Dann schrieb ich:
“Im allgemeinen Chor der Kommentierung der Matussek-Entlassung vermisse ich eine Stimme, die auf die Vorzüge hinweist, die der SPIEGEL Kulturteil der letzten Jahre hatte. Links sein heißt doch, die eigenen Meinungen zu überprüfen, aufzulösen, die Dinge immer wieder neu zu sehen. Unter Matussek herrschte doch eine ungeheure Freiheit des Denkens, ein Esprit aus Angriffslust, Humor, Neugierde. Brilliante Titelgeschichten über Heinrich Heine, Humboldt, Novalis, Heine, bis hin zu Romy Schneider sprengten den sonst so festgezurrten Rahmen…”
Judith unterbrach mich. Als sie gehört hatte, dass ich über Matussek schrieb, hatte sie natürlich sogleich bei Wikipedia nachgeguckt.
“Sag mal, hier steht, Gabor Steingart ist ebenfalls geflogen.”
“Nee, der ist von sich aus gegangen. Sehr geschickt von dem Mann, muß ich sagen.”
“Aber dann ist er doch gar nicht der neue Chefredakteur!”
“Der will bei dem Blutbad nicht dabei sein. Später läßt er sich dann ‘rufen’.”
“Hier steht, vielleicht wird Claus Kleber der neue Chef.”
“Quatsch. Jetzt lass mich weiterarbeiten.”
„Doch, das ist angeblich…“
Ich hörte gar nicht mehr zu. Natürlich kannte ich die Meldungen. Und wahrscheinlich glaubten die Beteiligten selbst daran. Aber in der Praxis ging das ja gar nicht. Man konnte auch Daniel Baranboim nicht zum Chefredakteur von Emma machen. Obwohl das ein phantastischer Mann war. Wie Claus Kleber.
Ich schrieb:
“Nichts gegen all die Häme, die jetzt überall gegen Matussek losbricht, aber nirgendwo steht, WAS dieser Mann eigentlich beruflich gemacht hat.
Es war eine Zeit des Aufbruchs und der (geistigen) Freiheit, vom Zeitgeist her die Entsprechung jener Phase, die zur Großen Koalition und zu ihrer ersten (guten) Hälfte führte, als die Grabenkämpfe vergessen, die links- und rechts-Schablonen zurückgedrängt wurden, und als alles plötzlich aufwärts ging…”
“Der muss ja jetzt stinkereich sein!” platzte es aus Judith heraus. Wahrscheinlich hatte sie gerade gelesen, was Stefan Aust für seinen vorzeitigen Abgang bekommen würde. Oder die Information, dass Matthias kurz vor dem großen Putsch noch einen neuen Zweijahresvertrag bekommen hatte. Das alles wollte ich aber gar nicht hören, und ich bat sie, ruhig zu sein. Ich wollte einzig über die ideengeschichtliche Bedeutung von Matthias Matussek schreiben. Er hatte einen phantastischen Kulturteil gemacht, und keiner sprach davon. Ich schrieb also:
“Es war nur ein schmales Zeitfenster, in dem soviel Freiheit möglich war. Matussek befreite das deutsche Feuilleton fast im Alleingang von der negativen Fixierung auf zwölf kümmerliche Nazi-Jahre und erweiterte die Kultur in die Gegenwart hinein um 60 Jahre und in die Vergangenheit hinein um 200 Jahre. Es war plötzlich SOVIEL davon da, was man lieben konnte, an Ideen, an…”
“Gabor Steingart hat ja ne GEILE Frau!”
“Ja, nicht wahr? Was für ein Gerät!”
Sie zeigte mir ein Foto auf dem Laptop. Das brachte mich aus dem Konzept. Diese Frau, neben ihr dieser aalglatte Typ… nein, er war AUCH sexy. Aber eben absolut nicht genial. Matussek war genial, aber das wollte nun niemand mehr wissen. Wie konnte die geistige Elite unseres Landes nur so ungerecht sein? Plötzlich schrieben alle nur noch vom Menschen Matussek. Es war, als würde man über Nietzsche nur noch sagen, dass er sein Pferd umarmt hatte. Würde alle Schriften verschweigen. Ich versuchte, mich an die zehn besten Matussek-Texte zu erinnern. Das war nicht schwer, aber gleichzeitig drückte sich Judith an mich.
“… an dem, was man Feuilleton nennt und was bis dahin aus nichtssagenden Theaterrezensionen und Besprechungen irrelevanter Bücher und Kunstausstellungen bestanden hatte. Das Gegenwärtige ist oft mittelmäßig, aber indem Matussek als Kulisse 250 Jahre Spitzenleistung aufspannte…”
“Hier steht, dass Matussek gegen das Neue war.”
“Wie? Aber das steht doch nicht in Wikipedia?”
“Nein, ich habe bei Google ‘Spiegel Matussek Aust’ eingegeben.”
“Kluges Kind.”
“42 Treffer für die letzten 20 Stunden.”
“Wahnsinn! Und wer schreibt…”
“Die WELT. Die schreiben, er sei gegen das Neue gewesen.”
“Völliger Unsinn. Er hat doch die Popkultur erst eingeführt da.”
“Der Tagesspiegel schreibt, er habe die Hosenträger auf eine…”
“Nein! Stop, das bringt mich nur durcheinander!”
Ich wollte endlich meinen schönen Kommentar schreiben und wandte mich ab. Ich wußte, dass alle in diesen Tagen über Claus Kleber schrieben, und gerade deshalb mußte wenigstens einer, nämlich ich, über das schreiben, was viel wichtiger war, nämlich das Ende des anregendsten, wirkungsmächtigsten Feuilletons, das Deutschland seit Heinrich Heine gehabt hatte.
Der Text wurde dann auch mal richtig gut – man wächst mit der Aufgabe – und soll ganz gediegen und natürlich völlig überarbeitet und anders im Kulturteil der Welt am Sonntag erscheinen, also zu einem Zeitpunkt, da die tagesaktuelle Aufregung um die Blendgranate Claus Kleber sich gelegt haben dürfte. Über den, Kleber, ist mir dann später leider noch klar geworden, dass er gar keine Fehlbesetzung ist. Auch kein Desaster für den SPIEGEL. Auch keine Katastrophe im herkömmlichen Sinn. Nein, all diese Worte sind viel zu schwach für das, was nun passieren wird.
Er wird schlicht DAS ENDE dieser Zeitschrift sein.

Quelle: Joachim Lottmann („Auf der Borderline nachts um halb eins“) in www.taz.de/blogs/

Anmerkung: Keinem auch nur halbgebildeten Leser war verborgen geblieben, wie DER SPIEGEL sich veränderte und verschlechterte. Das Saar-Echo titelte, Augstein würde sich im Grabe umdrehen, und das traf den Nagel auf den Kopf. Daß nun auch Schlag auf Schlag und Knall auf Fall mit Aust und Matussek zwei wirkliche Leistungsträger abserviert wurden und das auch noch unter in Mitteleuropa unüblichen und unwürdigen Begleiterscheinungen, lässt befürchten, daß sich Lottmanns obige Prophezeiung erfüllen dürfte. Aust hat den SPIEGEL in für Printmedien stürmischen Zeiten erfolgreich geleitet und Matussek ist nach der Einschätzung des amerikanischen Schriftstellers Harold Brodkey „der beste seiner Generation“. Und selbst wenn er das eine oder andere Mal eine Pflaume oder Flasche zusammengefaltet hat; die Redaktion eines solchen Magazins ist doch kein Pensionat für höhere Töchter. Wenn der Anschiß unbegründet war, keilt man zurück und wenn er berechtigt war, steckt man ihn weg!