Warum Gerhart Hauptmann Deutschland, Schlesien
und sein Haus "Wiesenstein" nicht verlassen konnte
Nie zuvor
war ein deutscher Dichter gefeiert worden wie Gerhart Hauptmann im Jahr 1932
aus Anlaß seines 70. Geburtstags. Am 16. Februar ging in Berlin sein letztes
Erfolgsdrama "Vor Sonnenuntergang" über die Bühne. Drei Tage später
brach er zu einer vierwöchigen Reise in die
USA auf, wo er die Ehren eines Staatsgastes erfuhr. Sogar das Weiße Haus
öffnete ihm die Türen. In Deutschland erwarteten ihn Festaufführungen, Preis‑
und Ordensverleihungen, Ausstellungen. Kaum eine Großstadt, die kein Bankett
für ihn ausrichtete. Mitte Dezember fuhr er wie jedes Jahr nach Italien.
Im Mai 1933 kehrte er nach
Hause zurück, ins heimatliche Schlesien, in ein verändertes Deutschland. Auf Anforderung
erklärte er verschiedentlich seine Loyalität gegenüber den neuen Machthabern. Bald sah er sich aus Emigrantenkreisen heftiger
Kritik ausgesetzt, die sich in der Literaturwissenschaft bis heute fortsetzt.
Entscheidungsschwach, harmoniesüchtig, politisch naiv sei er gewesen, urteilt
sein Biograph Wolfgang Leppmann (West), auch mochte
er vom Wohlleben nicht lassen, und "schollenverbunden",
wie er nun einmal war, sei die Affinität zum Nationalsozialismus folgerichtig
gewesen. Ähnlich Eberhard Hilscher (Ost): "Von
einem Manne, der die Möglichkeit freier Willensbestimmung bestritt, der Kompromisse
befürwortete, das Irrationale und Rauschhafte bejahte", sei "in den
Grundfragen der Nation kaum eine entschiedene Stellungnahme" zu erwarten
gewesen. Als Beleg zitiert Hilscher eine
Tagebuchnotiz Hauptmanns: "Ich könne eine Weltbewegung, die Italien,
Deutschland, Rußland, China ergriffen hat, durch mein Wort aufhalten? Narren,
Kinder, Dummköpfe! Was sind einzelne Menschen in diesem Spiel." Enthalten
diese Sätze aber nicht mehr politischen Realismus als alle antifaschistischen
Kampfschriften von Brecht, Feuchtwanger, Heinrich Mann zusammen? Diese Frage
wird in der Sekundärliteratur nicht gestellt, dort geht es um die moralische Abkanzelung.
Fragen wir also nach den Voraussetzungen von Hauptmanns Haltung.
Das Europa nach Versailles war ihm ein Hort der Lügen
Sie sind ohne Versailles nicht
zu denken. Der gutmütige, an Politik in der Tat nur mäßig interessierte
Hauptmann steigerte sich zu heiligem Zorn, wenn es um die Abtrennung
Oberschlesiens, die Besetzung des Ruhrgebiets oder den verweigerten Anschluß Deutsch‑Österreichs ging. Wie hätte er, als er 1938
erfolgte, etwas anderes für ihn sein können als die "folgerichtige
Verwirklichung einer geschichtlichen Notwendigkeit"? (Berliner Tageblatt,
2.4.1938)
Das von den Siegermächten
bestimmte politische Europa war ihm ein Hort der Lügen. "Seine
schamlosesten Lügen heißen: Christentum, Menschenliebe, Herrschaft der
Vernunft, Völkerrecht, Völkerbund, Menschlichkeit, Kultur. Statt dessen müßte
es heißen: Bestialität, Menschenhaß, Herrschaft der Unvernunft." Am 1.
April 1923 schrieb er im Tageblatt: "Was aber rät das Sprichwort den
Geknechteten? 'Wer keiner Gewalt widerstrebt, der zieht sie groß.' ‑ 'Wer
zu Gewalt schweigt, verliert seine Rechte.' Auch das Recht auf Kritik! So gab
es für ihn 1933 keinen Grund, seine Entscheidung über die Rückkehr nach
Deutschland von ausländischem Stirnrunzeln abhängig zu machen.
Außerdem: Mußte es ihn nicht
an jeder Moralität von Politik zweifeln lassen, daß Deutschland erst unter dem
Diktator jene Selbstverständlichkeiten konzediert wurden, die seinen
demokratischen Vertretern verweigert worden waren? Am 15. November 1937, seinem
75. Geburtstag, hielt er über den Deutschen Kurzwellensender eine Rede an die
Deutschen in Übersee, in der er auf den Dreißigjährigen Krieg zurückkam, der
Deutschland "als einen einzigen Leichnam" zurückließ. Die Lehre
daraus war dieselbe wie nach dem Ersten Weltkrieg: "Aber wir wissen auch,
was seine geographische Lage von jedem Deutschen verlangt: nämlich mit Mut, Gut
und Blut jederzeit zu seiner Verteidigung bereit zu sein."
Im November 1940 bekundete er
in der Zeitschrift Das Reich sein
Glück über das nun grenzenlose Schlesien. "Seit dem Weltkriege sah man
immer wieder imaginäre Arme und Hände danach ausgestreckt, und das Unmögliche,
daß nämlich Breslau eines Tages nicht mehr deutsch sein sollte, trat ins
Bereich des Möglichen. Das ist nun ebenfalls anders geworden. ( ... ) Der
Schlesier wäre kein deutscher Mensch, wenn er das nicht mit Behagen
fühlte." Die Ängste waren auch persönlicher Art gewesen: Vielleicht, so
hatte ich mir zu sagen, mußt du einmal Haus und Herd verlassen, weil sie nicht
mehr in deutscher Erde begründet sind. Dieser Alpdruck ist, Gott sei Dank, von
uns genommen." Nachträglich fragt man sich, ob die Furcht nicht doch vielmehr
die Zukunft betraf.
Am 1. Januar 1941 schrieb er
im Berliner Lokalanzeiger, die Deutschen befanden sich in einem
"erklärten Krieg", sie seien aber "durch das Christentum hindurchgegangen,
und niemals mehr werden wir das Beste seiner Ethik aus unserem Blute entfernen
wollen: ( ... ) Humanität! Der Krieg, der bei den Spartanern Selbstzweck war,
ist es uns nicht. Es klingt paradox: aber der wahrhaft europäische Mensch von
heut führt nur Krieg um des Friedens willen."
In einigen Zitaten klang an, wie
tief Hauptmanns in Schlesien verwurzelt war. Bereits seine Vorfahren hatten
hier gelebt. Für die Schlesier war er zu einer Art Rübezahl geworden, die
lebende Inkarnation ihrer Provinz. Duktus, Themen und Stoffe seiner Dichtungen
schöpfte er aus Landschaft, Geschichte, Mystik und dem Dialekt Schlesiens.
Als er sich 1901 sein Haus
"Wiesenstein", ein burgartiges Schlößchen,
am Fuße des Riesengebirges erbauen ließ, war das nicht als mechanischer
Eingriff in die Berglandschaft geplant, um sie sich nutzbar zu machen, sondern
ein buchstäblich fundamentales Bekenntnis zu ihr, ein Akt des Hegens und
Behütens für ihren Genius loci. Das Haus sollte "die mystische Schutzhülle
(seiner) Seele" bilden. Hier trug er eine kostbare Bibliothek zusammen,
Kunstwerke und Familienstücke, die Wohnhalle schmückten Wandfresken zum Thema
"Das schlesische Paradies", die Motive aus seinen Werken aufgriffen.
In Truhen und schweren Danziger Schränken lagerten seine Manuskripte. Hier war
sein Zuhause!
Die Vertrauten seiner letzten
Jahre (die Literaturwissenschaftler C. F. W. Behl und
Felix A. Voigt, die Schriftsteller Erich Ebermayer,
Hans von Hülsen und Gerhart Pohl) haben nach Hauptmanns Tod ihre Erinnerungen
publiziert. Sie beschrieben den "Wiesenstein" als Refugium vor den
Widrigkeiten der Zeit, in dem die unterschiedlichsten Vergangenheiten,
geistigen Räume und das Fluidum der Persönlichkeiten, die jemals zu Besuch
waren, zu einer intensiven Allgegenwart verschmolzen. Das als "Schollenverbundenheit"
zu verhöhnen, ist billig.
Um der
Bedeutung gerecht zu werden, die dem "Wiesenstein" hier zugeschrieben
wird, muß man auf Heideggers Deutung des griechischen Tempels zurückgreifen:
Er ist in der Erde verwurzelt und ihr entsprungen. Er verbirgt die Erde unter
sich und verbindet sie mit dem Himmel. Als säulenumstandener
Raum ist er zugleich offen und umschlossen. "Ein griechischer Tempel ist daher
der Ort, an dem sich die beiden ursprünglichen Mächte der Wahrheit des Seins ‑
Offenheit, 'die Lichtung', und Verborgenheit oder beschütztes Umhüllen ‑
verbinden." (G. Steiner)
Aus
Gründen, die tiefer lagen als alle Politik und Moral, konnte Hauptmann, der
Kunst als Religion und sich selbst als das ‑ Medium des Unaussprechlichen
verstand, Deutschland, Schlesien und seinen "Wiesenstein" unmöglich verlassen.
Er wurde für ihn um so
wichtiger, je enger sich sein Lebenskreis zog. Im Frühjahr 1939 kehrte er von
seiner letzten Italienreise zurück, dann verbot der Krieg Fahrten ins Ausland.
Auch innerhalb Deutschlands machten Transportschwierigkeiten und die
Luftkriegsgefahr das Reisen immer beschwerlicher. Das Riesengebirge blieb von
direkten Kriegseinwirkungen bis zum Schluß verschont.
C. F. W. Behl,
der im Auftrag des Fischer-Verlags die Gesamtausgabe letzter Hand vorbereitete
und dafür nach Agnetendorf übersiedelte, hat über
seine "Zwiesprache mit Gerhart Hauptmann" Tagebuch geführt.
Politische Erörterungen scheint er gemieden zu haben, um den Kopf für
literarische Arbeit freizuhalten. Sehr nahe gingen ihm die Berichte von Bombenangriffen.
Die Russen hielten die Hand über ihn, solange es
ging
Die Silvesternacht von 1944
auf 1945 überschlief er, zum ersten Mal in seinem bewußten Leben. Er hege kein
gutes Vorgefühl für das kommende Jahr, notierte Behl.
Am 12. Januar schloß er die Korrekturen seines letzten Dramas,
"Elektra", ab. Am selben Tag begann im Osten die russischen
Großoffensive und damit tauchte für Hauptmann "unmittelbar" die Frage
nach der Zukunft seines Hauses auf. Die Gespräche am flackernden Kamin waren
von melancholischer, "seltsam transitorischer Stimmung".
Anfang Februar fuhr er mit
seiner erkrankten Frau zur Kur nach Dresden, auch zur eigenen "'psychischen
Luftveränderung' ( ... ) Keinesfalls wolle er sich dem schlesischen Schicksal
entziehen." In Dresden sollte er die Hölle erleben. Am 15. März kehrte er
unter Mühen nach Agnetendorf zurück. Seine Frau bat
den Schriftsteller und Nachbarn Gerhard Pohl zu sich. "Wir werden auf dem
Wiesenstein bleiben, um hier zu leben und wenn nötig ‑ zu sterben..."
Im Mai zogen russische Truppen
in Agnetendorf ein. Die Russen haben sich Hauptmann
gegenüber nobel verhalten. Solange es ging, hielten russische Kulturoffiziere ‑
in der Regel handelte es sich um hochgebildete, fließend Deutsch sprechende, in
die deutsche Kultur geradezu vernarrte Spezialisten ‑ ihre schützende
Hand über seine Person und sein Haus. Gerhart Pohl schildert den kurzen Besuch
eines jungen Leutnants, der um ein zweiminütiges Gespräch bat. Er rezitierte
auf russisch Verse aus dem Drama "Hanneles
Himmelfahrt", zog dann ein Foto des Dichters aus der Tasche und bat um ein
Autogramm: "'Die mir glauben sollen zu Hause, daß ich dich kennen, großer
alter, so lieber Herr!' Und er küßte die Hand des Greises und verschwand."
Im April 1946 teilten die
sowjetischen Militärs ihm mit, daß die Evakuierung der Deutschen im Kreis
Hirschberg bevorstünde. Sie drängten Hauptmann zum Aufbruch und sicherten ihm
einen Sonderzug für Mobiliar und Hausrat zu. Hauptmann nahm das Angebot an,
sagte aber später, lebend würde man ihn nicht vom "Wiesenstein"
fortbringen.
Im Mai erkrankte er und fiel
schließlich in Ohnmacht. Einige Sätze aus Gerhart Pohls berühmtem Bericht:
"Am 3. Juni waren die letzten Worte Gerhart Hauptmanns zu vernehmen. Sie
formten kein Vermächtnis des Künstlers, keinen Appell an die Welt, kein Wort
der Liebe für die wahrhaft geliebte Gattin, vielmehr ‑ die in ihrer
Möglichkeit bestürzende, die Menschheit tiefbeschämende
Frage: 'Bin ‑ ich ‑ noch ‑ in meinem Hause?' Einer der
größten deutschen Dichter und der größte Schlesiens überhaupt ist in dem
Bewußtsein der drohenden Obdachlosigkeit gestorben." Sein Tod erfolgte am 6.Juni
1946, nachmittags. Bis heute wartet er auf eine angemessene Deutung.
Begraben wurde er auf dem
Friedhof der Insel Hiddensee, wo er 60 Jahre lang die Sommermonate verbracht
hatte. Seine Frau schrieb dem Inselpfarrer: "Der Abschied vom Wiesenstein
naht ‑ der Abschied für immer. ( ... ) Manchmal sagte Gerhart zu mir:
'Wenn ich nicht fürchten müßte, meine guten Schlesier zu kränken, so möchte ich
am liebsten auf diesem schlichten Friedhof von Hiddensee meinen ewigen Schlaf
schlafen.' Da sein Schlesien mit ihm stirbt, so kann ich ihm nun seinen letzten
Wunsch erfüllen."
Quelle: THORSTEN HINZ in JUNGE FREIHEIT vom 2. Juni 2006