Goethe und Schiller
(...) Die Opposition gegen Goethe beginnt eigentlich mit dem Erscheinen der sogenannten falschen Wanderjahre, welche unter dem Titel «Wilhelm Meisters Wanderjahre» im Jahre 1821, also bald nach dem Untergang der Schlegel, bei Gottfried Basse in Quedlinburg herauskamen. Goethe hatte nämlich unter eben diesem Titel eine Fortsetzung von «Wilhelm Meisters Lehrjahren» angekündigt, und sonderbarerweise erschien diese Fortsetzung gleichzeitig mit jenem literarischen Doppelgänger, worin nicht bloß die Goethesche Schreibart nachgeahmt war, sondern auch der Held des Goetheschen Originalromans sich als handelnde Person darstellte. Diese Nachäffung zeugte nicht sowohl von vielem Geiste, als vielmehr von großem Takte, und da der Verfasser einige Zeit seine Anonymität zu bewahren wußte und man ihn vergebens zu erraten suchte, so ward das Interesse des Publikums noch künstlich gesteigert. Es ergab sich jedoch am Ende, daß der Verfasser ein bisher unbekannter Landprediger war namens «Pustkuchen», was auf französisch omelette soufflée heißt, ein Name welcher auch sein ganzes Wesen bezeichnete. Es war nichts anders als der alte pietistische Sauerteig, der sich ästhetisch aufgeblasen hatte. Es ward dem Goethe in jenem Buche vorgeworfen: daß seine Dichtungen keinen moralischen Zweck hätten; daß er keine edlen Gestalten, sondern nur vulgäre Figuren schaffen könne; daß hingegen Schiller die idealisch edelsten Charaktere aufgestellt und daher ein größerer Dichter sei.
Letzteres, daß nämlich
Schiller größer sei als Goethe, war der besondere Streitpunkt, den jenes Buch
hervorgerufen. Man verfiel in die Manie die Produkte beider Dichter zu
vergleichen und die Meinungen teilten sich. Die Schillerianer pochten auf die
sittliche Herrlichkeit eines Max Piccolomini, einer Thekla, eines Marquis Posa
und sonstiger Schillerschen Theaterhelden, wogegen sie die Goetheschen
Personen, eine Philine, ein Gretchen, ein Klärchen und dergleichen hübsche
Kreaturen für unmoralische Weibsbilder erklärten. Die Goetheaner bemerkten lächelnd,
daß letztere und auch die Goetheschen Helden schwerlich als moralisch zu
vertreten wären, daß aber die Beförderung der Moral, die man von Goethes
Dichtungen verlange, keineswegs der Zweck der Kunst sei: denn in der Kunst gäbe
es keine Zwecke, wie in dem Weltbau selbst, wo nur der Mensch die Begriffe
«Zweck und Mittel» hineingegrübelt; die Kunst, wie die Welt, sei ihrer selbst
willen da, und wie die Welt ewig dieselbe bleibt, wenn auch in ihrer
Beurteilung die Ansichten der Menschen unaufhörlich wechseln, so müsse auch
die Kunst von den zeitlichen Ansichten der Menschen unabhängig bleiben; die
Kunst müsse daher besonders unabhängig bleiben von der Moral, welche auf der
Erde immer wechselt, so oft eine neue Religion emporsteigt und die alte
Religion verdrängt. In der Tat, da jedesmal nach Abfluß einer Reihe Jahrhunderte
immer eine neue Religion in der Welt aufkommt, und indem sie in die Sitten
übergeht sich auch als eine neue Moral geltend macht: so würde jede Zeit die
Kunstwerke der Vergangenheit als unmoralisch verketzern, wenn solche nach dem
Maßstabe der zeitigen Moral beurteilt werden sollen. Wie wir es auch wirklich
erlebt, haben gute Christen, welche das Fleisch als teuflisch verdammen, immer
ein Ärgernis empfunden beim Anblick der griechischen Götterbilder; keusche
Mönche haben der antiken Venus eine Schürze vorgebunden; sogar bis in die
neuesten Zeiten hat man den nackten Statuen ein lächerliches Feigenblatt
angeklebt; ein frommer Quäker hat sein ganzes Vermögen aufgeopfert, um die
schönsten mythologischen Gemälde des Giulio Romano anzukaufen und zu verbrennen
- wahrlich, er verdiente dafür in den Himmel zu kommen und dort täglich mit
Ruten gepeitscht zu werden! Eine Religion, welche etwa Gott nur in die Materie
setzte, und daher nur das Fleisch für göttlich hielte, müßte, wenn sie in die
Sitten überginge, eine Moral hervorbringen, wonach nur diejenigen Kunstwerke
preisenswert, die das Fleisch verherrlichen, und wonach, im Gegenteil, die
christlichen Kunstwerke, die nur die Nichtigkeit des Fleisches darstellen, als
unmoralisch zu verwerfen wären. Ja, die Kunstwerke, die in dem einen Lande
moralisch, werden in einem anderen Lande, wo eine andere Religion in die Sitten
übergegangen, als unmoralisch betrachtet werden können, z.B. unsere bildenden
Künste erregen den Abscheu eines strenggläubigen Moslem, und dagegen manche
Künste, die in den Haremen des Morgenlands für höchst unschuldig gelten, sind
dem Christen ein Greuel. Da in Indien der Stand einer Bajadere durchaus nicht
durch die Sitte fletriert ist, so gilt dort das Drama «Vasantasena», dessen
Heldin ein feiles Freudenmädchen, durchaus nicht für unmoralisch; wagte man es
aber einmal dieses Stück im Theater Francais aufzuführen, so würde das ganze
Parterre über Immoralität schreien, dasselbe Parterre, welches täglich mit
Vergnügen die Intrigenstücke betrachtet, deren Heldinnen junge Witwen sind,
die am Ende lustig heiraten, statt sich, wie die indische Moral es verlangt,
mit ihren verstorbenen Gatten zu verbrennen.
Indem
die Goetheaner von solcher Ansicht ausgehen, betrachten sie die Kunst als eine
unabhängige zweite Welt, die sie so hoch stellen, daß alles Treiben der
Menschen, ihre Religion und ihre Moral, wechselnd und wandelbar, unter ihr hin
sich bewegt. Ich kann aber dieser Ansicht nicht unbedingt huldigen; die
Goetheaner ließen sich dadurch verleiten die Kunst selbst als das Höchste zu
proklamieren, und von den Ansprüchen jener ersten wirklichen Welt, welcher doch
der Vorrang gebührt, sich abzuwenden.
Schiller hat sich jener ersten Welt viel bestimmter angeschlossen
als Goethe, und wir müssen ihn in dieser Hinsicht loben. Ihn, den Friedrich
Schiller, erfaßte lebendig der Geist seiner Zeit, er rang mit ihm, er ward von
ihm bezwungen, er folgte ihm zum Kampfe, er trug sein Banner, und es war
dasselbe Banner worunter man auch jenseits des Rheines so enthusiastisch
stritt, und wofür wir noch immer bereit sind, unser bestes Blut zu vergießen.
Schiller schrieb für die großen Ideen der Revolution, er zerstörte die
geistigen Bastillen, er baute an dem Tempel der Freiheit, und zwar an jenem
ganz großen Tempel, der alle Nationen, gleich einer einzigen Brüdergemeinde,
umschließen soll; er war Kosmopolit. Er begann mit jenem Haß gegen die
Vergangenheit, welchen wir in den «Räubern» sehen, wo er einem kleinen Titanen
gleicht, der aus der Schule gelaufen ist und Schnaps getrunken hat und dem
Jupiter die Fenster einwirft; er endigte mit jener Liebe für die Zukunft, die
schon im «Don Carlos» wie ein Blumenwald hervorblüht, und er selber ist jener
Marquis Posa, der zugleich Prophet und Soldat ist, der auch für das kämpft was
er prophezeit, und unter dem spanischen Mantel das schönste Herz trägt, das
jemals in Deutschland geliebt und gelitten hat.
Der
Poet, der kleine Nachschöpfer, gleicht dem lieben Gott auch darin, daß er seine
Menschen nach dem eigenen Bilde erschafft. Wenn daher Karl Moor und der Marquis
Posa ganz Schiller selbst sind, so gleicht Goethe seinem Werther, seinem
Wilhelm Meister und seinem Faust, worin man die Phasen seines Geistes studieren
kann. Wenn Schiller sich ganz in die Geschichte stürzt, sich für die gesellschaftlichen
Fortschritte der Menschheit enthusiasmiert und die Weltgeschichte besingt: so
versenkt sich Goethe mehr in die individuellen Gefühle, oder in die Kunst, oder
in die Natur. Goethe, den Pantheisten, mußte die Naturgeschichte endlich als
ein Hauptstudium beschäftigen, und nicht bloß in Dichtungen, sondern auch in
wissenschaftlichen Werken gab er uns die Resultate seiner Forschungen. Sein
Indifferentismus war ebenfalls ein Resultat seiner pantheistischen Weltansicht.
Es ist leider wahr, wir müssen es eingestehn, nicht selten hat der Pantheismus die
Menschen zu Indifferentisten gemacht. Sie dachten: wenn alles Gott ist, so mag
es gleichgültig sein, womit man sich beschäftigt, ob mit Wolken oder mit
antiken Gemmen, ob mit Volksliedern oder mit Affenknochen, ob mit Menschen oder
mit Komödianten. Aber da ist eben der Irrtum: Alles ist nicht Gott, sondern
Gott ist Alles; Gott manifestiert sich nicht in gleichem Maße in allen Dingen,
er manifestiert sich vielmehr nach verschiedenen Graden in den verschiedenen
Dingen, und jedes trägt in sich den Drang einen höheren Grad der Göttlichkeit
zu erlangen; und das ist das große Gesetz des Fortschrittes in der Natur. Die Erkenntnis
dieses Gesetzes, das am tiefsinnigsten von den Saint-Simonisten offenbart
worden, macht jetzt den Pantheismus zu einer Weltansicht, die durchaus nicht
zum Indifferentismus führt, sondern zum aufopferungssüchtigsten Fortstreben.
Nein, Gott manifestiert sich nicht gleichmäßig in allen Dingen, wie Wolfgang
Goethe glaubte, der dadurch ein Indifferentist wurde, und statt mit den
höchsten Menschheitsinteressen, sich nur mit Kunstspielsachen, Anatomie,
Farbenlehre, Pflanzenkunde und Wolkenbeobachtungen beschäftigte: Gott manifestiert
sich in den Dingen mehr oder minder, er lebt in dieser beständigen
Manifestation, Gott ist in der Bewegung, in der Handlung, in der Zeit, sein
heiliger Odem weht durch die Blätter der Geschichte, letztere ist das eigentliche
Buch Gottes; und das fühlte und ahnte Friedrich Schiller und er ward ein
«rückwärtsgekehrter Prophet», und er schrieb den «Abfall der Niederlande», den
«dreißigjährigen Krieg» und die «Jungfrau von Orleans» und den «Tell». (...)
Quelle: Heinrich Heine –
Auszug aus „Die romantische Schule“