George Bernard Shaw
Shaw war ein Mann des Wortes,
der Reformen und der Worte über Reformen. Insofern paßte er gut ins 19.
Jahrhundert. Mit der Leidenschaft seines irischen Herzens kämpfte er für eine
bessere Welt: Als mitreißender Redner begeisterte er sich für Anti‑Alkoholismus,
Vegetarismus und Nichtrauchertum, für Frauenwahlrecht und wollene Reformkleidung,
für Richard Wagner und Karl Marx und sexuelle Askese. Vor allem begeisterte er
sich für das Bild seiner selbst: Wie er mit flammendem Vollbart auf irgendeiner
Apfelsinenkiste stand und zu den Massen sprach, das Feuer der Aufklärung
entzündend, das bot ihm beinah Erfüllung. Diese Begeisterung für sich selbst,
seinen Witz und seine Worte war es, die ihn letztlich dorthin führte, wo er am
meisten reden konnte, und wo man ihm am wenigsten widersprach: zum Theater!
Und er sprach viel. Um die
Jahrhundertwende war er einer der populärsten Volksredner in England,
angesehenes Mitglied der Fabian Society, einer Gemeinschaft von
Intellektuellen, die hofften, durch beharrliches Einwirken auf die
Öffentlichkeit eine neue Gesellschaft buchstäblich herbeizureden. Die Schranken
der englischen Klassengesellschaft - die damals ein gutes Stück hinter der demokratischen
Entwicklung in Deutschland zurück war, wo es schon seit 1871 ein freies, gleiches
und geheimes Männerwahlrecht zum Reichstag gab ‑ sollten nach und nach
überwunden werden. Shaw hatte als junger, mittelloser Ire in der Bibliothek des
Britischen Museums alles gelesen, was ihm in die Finger gefallen war, nicht
zuletzt Karl Marx. Nun träumte er davon, daß England den idealen Kommunismus
erreichen könnte, ohne zuvor das Fegefeuer der Revolution zu durchleiden.
Shaw glaubte an die Macht des
Wortes und des Arguments ‑ und an die Macht des wortreich
argumentierenden Theaters: Vor allem zu Beginn seiner literarischen Laufbahn
griff er soziale Probleme auf - Mietwucher und Prostitution, Ausbeutung der
Armen und Heuchelei der Besitzenden. Seine eigene Existenz war bescheiden: Er
lebte recht und schlecht als Theater‑ und Musikkritiker, wohnte mit zwei
Schwestern bei seiner Mutter in London und trug einen wollenen Reformanzug
während der Vater in Dublin still und leise vor die Hunde ging.
George Bernard Shaw ist aber
nicht berühmt geworden als der brillanteste Politiker, der nie gewählt wurde, sondern
als Dramatiker. Der spielerische Unernst, der ihm als Agitator schadete, trieb
seine Popularität als Autor in immer höhere Umlaufbahnen: Mochte es ihm mit
seinen Anliegen noch so ernst sein, die Freude an der Sprache und ihrer
Musikalität sowie seine Lust, die Welt von zwei Seiten zu zeigen, übermannten
ihn stets. Shaw besaß zwar eine fein verästeltete Weltanschauung, die ihn mit
festen Ansichten zu allen möglichen Fragen erfüllte, doch der Künstler in ihm
war immer stärker als der Kämpfer. Das zeigt sich gerade auch in seinen
sozialkritischen Werken, in denen ihm oft das Kunststück gelingt, das Publikum
selbst mit seitenlangen Monologen nicht aus der Kirche zu predigen, sondern zum
Lachen zu bringen.
Wirkliche Größe erreicht Shaw
dort, wo er alle Politik über Bord wirft und sich der Vielfalt des menschlichen
Herzens öffnet: Die "Heilige Johanna" (1922) ist ein Wunderwerk der
Bühne. Wie es Shaw gelingt, Tragik zu entwickeln und Sentimentalität zu meiden,
ist meisterhaft. Er hält die Spannung bis zum letzten Wort, nimmt alle
Handelnden ernst, gibt ihnen ihr Recht, und verleiht unserem Mitleid eine
reinigende Kraft. Sein Kunstgriff dabei ist das humoristische Paradoxon: So
beginnt die "Heilige Johanna" mit dem wütenden Ausbruch eines
Schloßherrn, der sich ärgert, daß seine Hühner keine Eier mehr legen ‑
scheinbar der allerbanalste Anfang, den ein Heiligenspiel nehmen kann. Der
ängstliche Diener widerspricht: Die mangelnde Legefreude der Hennen sei ein
göttliches Zeichen. Was für ein Unsinn! denkt der Ritter natürlich. Hier greift
Shaw, der einen Lacher nie verachtet, tief in die Klamottenkiste des Theaters:
Ein törichter 'miles gloriosus' hier, ein trotteliger Diener dort. Diese beiden
Rollen ‑ man möchte sagen: Knallchargen ‑ werden im nächsten Moment
Zeuge des Auftretens einer Heiligen, und mehr noch: Sie erkennen, was es mit
dem Mädchen auf sich hat. Ihre Ergriffenheit teilt sich dem Zuschauer mit, als
die Szene endet. Doch schon spielt Shaw den Ball zurück in die diesseitige
Welt. Atemlos stürzt der Diener herbei und meldet: Die Hühner legen Eier wie
verrückt, Sire. Vorhang! So schreibt man Aktschlüsse!
Shaw ist ein Meister des
Tempowechsels, der Überraschung und des kalkulierten Stilbruchs: In einem
frühen Meisterwerk, "Cäsar und Cleopatra" (1898), läßt er Cleopatra
dem klugen, aber leider etwas eitlen Cäsar Rum anempfehlen, um sein Haupthaar
zu verdichten. Vorangegangen ist ein pathetischer Monolog Cäsars, in dem er die
Sphinx begrüßt: Von den großen Worten erwacht Cleopatra, die sich zu Füßen der
Sphinx versteckt hatte. Sie spricht Cäsar mit den geflügelten Worten an:
"Du, alter Herr...". Zusätzliche
Komik erfährt der
Gegensatz
von Worten und Welt, wenn Cäsar hört, daß die Figur, die er so verehrungsvoll
grüßte, nur Cleopatras kleine Zweit‑Sphinx ist ‑ da geht es ihm
ähnlich wie dem Touristen, der auf dem Piazzale Michelangelo in Florenz eine
der viel zu vielen David‑Kopien bewundert.
Die vielleicht beste Komödie,
die Shaw geschrieben hat, "Helden" (1894), lebt von solchen genau
kalkulierten Brüchen. Ein Feigling erweist sich als mutiger Mann, ein Held als
Prahlhans, eine Liebe als Selbstbetrug, eine Pistolentasche als Schokoladen‑Depot.
Die Pointe, daß im Wettstreit der Brautwerber auf dem Balkan schließlich
derjenige siegt, der die meisten Tischdecken sein eigen nennen kann, ist ein
Überraschungseffekt, der auf die Erde zurückführt und eine von Shaws
Lieblingstugenden im humorvollen Gleichnis umschreibt: geradlinige Tüchtigkeit.
Zwar gibt er sich durchaus Mühe, dem militärischen Prahlhans - ihm fehlt
eigentlich nur noch eine fesche Sonnenbrille zum neudeutschen Major ‑ auch
positive Züge zu verleihen, aber hier hat Shaws Gerechtigkeitssinn gegen den
Bühneneffekt keine Chance: Was ein Trottel ist, soll nicht gescheit tun!
Shaws Liebe zum Paradox zeigt
sich besonders am Schluß von "Candida" (1895), einer
Dreiecksgeschichte zwischen dem reformfreudigen Pfarrer Morell (einer
unverkennbaren Selbst‑Karikatur Shaws), seiner Frau Candida und einem
rebellischen jungen Dichter, Marchbanks. Dieser entlarvt die Eitelkeit des Predigers
und erobert beinahe das Herz der Frau: Es kommt zum Showdown, in dem der
Pfarrer all seine Stärken ins Felde führt. Diesen hat der Dichter nichts
entgegenzusetzen, es scheint klar, daß Morell siegen werde. Doch Marchbanks
setzt sein Vertrauen in das Herz von Candida: Sie werde ihn lieben, gerade
wegen seiner Schwäche. Morell bricht zusammen, als Candida das bestätigt, aber
Shaw hat noch eine Überraschung parat.
Shaws Selbstverliebtheit ist
unverkennbar. Aber noch lieber als sich selbst mochte er, wie das Beispiel
Morell belegt, einen Witz über sich selbst ‑ zumindest solange er ihn
selbst machte. Sein Lebensweg vom Ladenschwengel zum Nobelpreisträger (1925),
vom Sohn eines Alkoholikers und einer musikvernarrten Mutter zum freundlichen,
mit einer liebenswürdigen Frau verheirateten Asketen ist immer wieder auch
geprägt von Hilfsbereitschaft, Großmut und Begeisterungsfähigkeit, von
scheinbar ungezwungener Arbeitskraft und nie versagender Neugier. Einer der
jungen Leute, denen er seine tatkräftige Hilfe schenkte, war T. E. Lawrence.
Gegen Ende seines Lebens, als er einen Preis aussetzte für die Reform der
englischen Rechtschreibung, meinte Shaw resignierend: Er habe alle Fragen der
Zeit beantwortet, und doch sei die Welt noch so dumm wie eh und je.
Quelle: BURKHART BERTHOLD in JUNGE FREIHEIT vom 3.11.2000 ("Die
Kunst des Arguments - Zum 50. Todestag des Schriftstellers George Bernard
Shaw")