Ein Nachruf auf Fritz Reuter
von Gustav Freytag (1874)
Er lag in seinem Sarge
zwischen Blumen und aufgeschichteten Kränzen, sanft berührt von der Hand des
Todes, das Antlitz etwas bleicher als sonst, die mannhaften Züge wie verklärt.
Und wer aus dem stattlichen Hause, das er sich am Fuße der Wartburg gebaut
hatte, herabsah auf den reichen Blütenflor der nächsten Umgebung, in das kleine
sonnige Tal unter dem Hause und ringsum in die lachende Landschaft, der merkte,
daß die Natur ihre heitersten Farben um den Verstorbenen vereinigt hatte, als
wollte sie verkünden, daß der Tod eines Mannes, der dazu auserwählt ist,
unvergänglich unter uns zu leben, mehr Erhebung als bitteren Schmerz bereitet.
Und wer am Tage der Bestattung von dem Wohnhaus des Dichters nach der Wartburg
hinüberblickte, nach den Türmen und Mauern, die hoch gegen den blauen Himmel
ragten, dem durfte wohl einfallen, daß vor 660 Jahren ein anderer großer
Dichter dort ein und aus gegangen war, der sich vergeblich ein Heimwesen im
Schatten der Fürstenburg ersehnt hatte. Es liegt eine lange Zeit deutscher
Geschichte zwischen Walther von der Vogelweide und Fritz Reuter, zwischen dem
ritterlichen Minnesänger, der in kunstvollen Versen die schwäbische Mundart zu
einer Schriftsprache von hoher Schönheit ausbilden half, und zwischen dem
bürgerlichen Niederdeutschen, der die Dialektklänge seiner Heimat zu
herzerfreuender Poesie verwertete. Aber wie verschieden die Gattung der Poesie
und wie verschieden die Kunstmittel sind, mit denen die beiden Dichter schufen,
gemeinsam ist beiden, daß sie ihrem Volke den besten Gewinn der schönen Kunst
erwarben, denn beide haben den idealen Bedürfnissen ihrer Zeit reichen und
vollen Ausdruck gegeben. Und der Humorist der Gegenwart sicher nicht weniger
als der lyrische Dichter des 13. Jahrhunderts.
In Fritz Reuter hat die Nation
wieder einen von den treuen Stimmführern verloren, welche in der engen Zeit vor
1848 zu Männern wurden, welche in hartem Kampfe mit widerwärtigen Verhältnissen
ihre Kraft festigten und als Lieblinge und Vertraute des Volkes lebten, während
Hader und Krieg um die politische Umgestaltung des Vaterlandes tobte. Dem
Dichter wurde noch die hohe Freude, das große Deutsche Reich, den Traum seiner
Jugend, für den er schwer gelitten hatte, in kräftiger Gestaltung zu sehen,
aber das Glück dieser letzten Jahre erfuhr er, als sein Haar gebleicht war, und
der neue Glanz erhellte ihm nur wie ein Abendlicht die letzte Spanne seiner
Erdenzeit. Er selbst hat härter als die meisten andern dafür gebüßt, daß er in
einer Zeit engherziger polizeilicher Bevormundung heraufwuchs,
er wurde aus geebneter Lebensbahn geschleudert; lange Jahre der Unsicherheit,
der Entbehrung und eines gedrückten Daseins bildeten in ihm ein Leiden aus, das
er später nicht überwand. Aber wie oft er dadurch gestört wurde, die
unübertreffliche Frische, Klarheit, Heiterkeit seines Geistes, seine warme
Liebe zu den Menschen und die wundervolle Laune, mit welcher er seine Umgebung
betrachtete, konnten ihm durch keine trübe Erfahrung und durch keine Krankheit
vermindert werden. Er stand unter uns als ein hochsinniger Mann, redlich,
opferbereit, wahrhaft, von einer seltenen Reinheit des Gemütes. Nicht alle,
welche mit fröhlichem Lachen seine Bücher lesen, wissen auch, daß er zugleich
in vielen großen Dingen von gereiftem und sicherem Urteil war, ein warmherziger,
aber auch ein besonnener und scharfsichtiger Patriot; von einer guten Natur,
welche den Instinkt für das Wahre und das Herz auf dem rechten Fleck hatte,
aber auch mit einem vielbewanderten und durch Studien
und Denken reichgebildeten Geiste.
Auch als Dichter schuf er
nicht wie ein Sorgloser, der nur lustigen Einfällen folgte, die gleich einem
nicht zu erschöpfenden Born in seiner Seele quollen. Er war Künstler im besten
Sinne des Wortes; wenn er auch einmal einer lustigen Schnurre allzu bereitwillig
nachgab, er verstand doch sehr gut, wo und wie er die schönen Wirkungen zu
verteilen hatte, er erwog ernsthaft den Bau und die Komposition seiner
Erzählungen und war sich auch, wie der Künstler soll, seiner technischen
Bildung bewußt. Und es war eine Freude, ihm zuzuhören, wenn er einmal von der
Arbeit an seinen Poesien sprach. Gerade daran muß hier erinnert werden, denn es
fehlt nicht ganz an ungerechten Beurteilern, welche in seinen Geschichten nur
eine Reihe zusammengereihter drolliger Einfälle und
Situationen sehen. Diese mögen die technische Arbeit doch näher prüfen, und sie
werden finden, daß er auch da, wo er sich die Sache einmal leicht macht, nur
als ein sorgloser Meister schafft und nicht als ein unbewanderter Naturalist.
Ja, der Künstlertakt, mit welchem er seine Charaktere in Haupt‑ und
Nebenfiguren abstuft, die Färbung einer Gestalt durch die abstechende der
andern ergänzt und hebt, ist oft geradezu bewundernswert, und ebenso
bewundernswert ist die sichere Hand, mit welcher er jeden einzelnen Teilnehmer
an seinen epischen Handlungen zu seinem Ziele führt.
Schnell freilich empfindet der
Leser den Zauber, welcher fast alle Charaktere seiner Erzählungen umgibt. Auch
diese Wirkung verdankt der Dichter zum Teil der kunstvollen Weise, in welcher
er idealisiert, d. h. künstlerisch zubereitet, denn jede seiner Gestalten
erscheint wie aus der Wirklichkeit abgeschrieben, und doch sind sie sämtlich
Idealgebilde; in allen strömt das Leben reich und voll, und doch ist jede ihrer
Lebensäußerungen zweckbewußt nach der Gesamtidee der
Erzählung gerichtet. Wenn ihm einmal begegnet, daß er in sittlichem Eifer die
Wirklichkeit kopiert ‑ Familie Pomuchelskopp ‑
oder daß er lachend einer geschichtlichen Anekdote folgt ‑ die
Durchlaucht von Strelitz ‑, so stechen solche
Gestalten von den übrigen, welche völliger künstlerisch gebildet sind, so
scharf ab, daß sie als Karikaturen erscheinen, was sie in der Tat nicht sind.
Freilich war er einer von den
Glücklichen, bei denen der Leser gern die Kunst über dem strotzenden Reichtum
der Naturkraft vergißt. Fast zahllos sind die Charaktere aus dem Volke, die er
dargestellt, und jeder mit einer Fülle von originalen Zügen ausgestattet, ganz
unbegrenzt erscheint sein Reichtum an ernsten und komischen Situationen. Ihm
war die schönste Gottesgabe verliehen: der Humor. Ein echt deutscher Humor, in
welchem über der launigen Darstellung menschlicher Beschränkung und
Verkehrtheit überall die herzliche Liebe zu den Menschen fühlbar wird, ein
gesunder und kräftiger Humor, der auch da, wo er ans Possenhafte streift, der
Grazie nicht entbehrt und der uns immer die beglückende Empfindung zuteilt, daß
es ein guter und lauterer Sinn ist, welcher uns seine lichtvolle Auffassung des
Lebens spendet.
Dem echten Dichter wird ein
Glück zuteil, mit dem sonst nur wenige Sterbliche begnadigt sind, er lebt als
Individualität auch nach dem Tode in seinem Volke fort, bildend, erhebend und
neues Leben erziehend. Der beste Teil seiner Seele und die Summe seiner
Erdenarbeit dauern unverändert in seinen Werken. Und wieder sehr wenigen
Dichtern unserer Nation ist eine so wirksame Unsterblichkeit beschieden als
gerade ihm. Denn er hat, während er unter uns weilte, durch seine Poesie uns
allen das Herz erfreut, das Leben verschönert. Auch den kleineren Kreisen des
Volkslebens, wo die Tage mit harter und ernster Arbeit erfüllt sind und die
Strahlen der Kunst das Dasein sonst nur spärlich verschönern, hat dieser
Dichter die Familie, das Hauswesen, die Arbeit verklärt wie kein anderer.
Hunderttausende haben durch ihn das Bewußtsein erhalten, wie tüchtig und brav
ihre Existenz ist, wieviel Wärme, Liebe und Poesie auch in ihrem mühevollen
Leben zutage kommt. Sie alle sind durch ihn freier, reicher und glücklicher
geworden. Und dieses edle Amt eines Vertrauten und Lehrers, der durch herzgewinnendes Lachen stärker und besser macht, wird Fritz
Reuter unter uns verwalten, solange die Klänge der niederdeutschen Sprache
dauern, solange unser Volkstum etwas von der Kindlichkeit, von der treuherzigen
Einfalt und Herzensgüte bewahrt, welche in den Gebilden des Dichters jetzt mit
unwiderstehlichem Reiz auf den Leser wirken.