Dostojewsky
Mit Puschkin und Gogol
entledigt sich die russische Literatur der westeuropäischen Verkleidung und
gewinnt ein eigenes nationales Antlitz, um in der nächsten Generation mit
Fjedor Michailowitsch Dostojewski endgültig in den Kreis der Weltliteratur
einzutreten.
Dostojewski, der am 11.
November 1821 geboren wurde, hat, wie alle großen Genien des russischen Volkes
ein Leben geführt, auf dem mehr Schatten lag als Sonnenglanz. Als Sohn eines
Spitalarztes wurde er auf die Ingenieurschule geschickt und debutierte mit zwei
Erzählungen, die dem jungen Manne die Beachtung der Kritik und die Anwartschaft
auf den verwaisten Platz Gogols sicherten. Da wurde er in einen Prozeß
verwickelt, der sich gegen die Mitglieder des Petraschewskijschen Sozialistenbundes
richtete und gemäß den drakonischen Methoden der zaristischen Justiz zum Tode
verurteilt. Er stand bereits mit verbundenen Augen auf dem Richtplatz, als die
Begnadigung des Zaren eintraf. Vier Jahre lang mußte er im Zuchthaus unter
Kriminalverbrechern Zwangsarbeit leisten und mußte fünf weitere qualvolle Jahre
in sibirischen Regimentern als Gemeiner zubringen. Körperlich gebrochen,
erlangte er mit 38 Jahren endlich die Freiheit. In den «Erinnerungen aus einem
Totenhause» hat er dieses Martyrium geschildert. Jahre fürchterlichster Not
mußte er durchleben, ehe er schließlich die Anerkennung seines Volkes und
Europas errang. Er starb 1881 in Petersburg.
Die schreckliche Leidenszeit
hat dem ohnehin grüblerischen und schwerblütigen Manne endgültig den Stempel
aufgedrückt. Puschkin und Gogol, die Väter der modernen russischen Literatur,
standen noch unter dem Einfluß der Romantik, und ein weicher melancholischer
Zauber mildert die Härten ihres Werkes. Dostojewski steht bereits jenseits der
Romantik. Seine Domäne ist die Wirklichkeit. Seine im Kerker schwach und müde
gewordenen Augen suchen auch nicht den blauen Himmel des heiteren Tages. Sein
Werk ist ohne Frühling und ohne Sommer, ein grauer russischer Herbst, in dem
Dämonen umgehen und Irrlichter spuken und den Menschen in Schuld und Verdammnis
locken. Da, wo die Nachtseite des Lebens beginnt, da, wo der Mensch sich selbst
verliert und wahnbetört ins Ungewisse taumelt, beginnt Dostojewskis
Herrschaftsbereich.
Seinen Ruhmestitel bilden
vornehmlich zwei monumentale Romane, die vor allem in Deutschland Eingang
gefunden haben, «Schuld und Sühne» und
«Die Brüder Karamasow». Rodion
Raskolnikow, der arme Student, der eine alte Pfandleiherin und deren Schwester
erschlägt, um die paar Goldstücke zu erlangen, die er braucht, um sich den Weg
ins Leben zu öffnen, ist wie Faust oder Hamlet eine der ganz großen,
unvergeßlichen Gestalten der Weltliteratur. Ein Symbol der blinden
Herrschsucht, die über Menschenleben hinweggeht und, von dem gequälten Gewissen
ruhelos hin und her gepeitscht, schließlich als Sträfling den Weg zur Reue und
Erlösung findet. Die «Brüder Karamasow» sind ein gigantischer Versuch, die
Seele Rußlands in drei jungen Menschen zu verkörpern. Fedor Pawlowitsch ist der
frevelhafte, unmenschliche Vater, Dimitri: der Sinnentaumel, der sein Bestes
vergeudet, um in Nacht und Elend vielleicht doch Läuterung zu finden, Iwan: der
skeptische Intellekt, der an seiner Herzenskälte verdirbt, und Aljoscha: der
Seelenfrieden. Das ungeheure Werk ist Fragment geblieben. Nichts verrät, wem
der Dichter schließlich die Krone des Lebens geben wollte.
Georg Brandes, der berühmte
dänische Literarhistoriker, hat Dostojewski einmal ein «epileptisches Genie»
genannt. Und in der Tat, seine Romane sind formlos, vieles erscheint nicht wie
vom Künstler gewollt und gestaltet, sondern wie von einem Besessenen in
namenloser Angst in die Welt hinausgeschrien. Es wäre Heuchelei, zu
verschweigen, daß uns vieles fremd ist und ewig fremd bleiben muß. Uns fehlt
das Organ für viele dieser seelischen Kämpfe und Gewissensbedrängungen und für
den religiösen Mystizismus vor allem. Im tiefsten Grunde wird uns der große,
einsame Mann immer Rätsel bleiben ebenso wie sein inbrünstig geliebtes Rußland.
Heute, nachdem ihr Schöpfer vierzig Jahre im Grabe ruht, kämpfen die Brüder
Karamasow noch immer um die russische Erde, und Not und Tod begleiten ihren
Weg. Wer von uns will es entscheiden, ob schließlich Aljoscha, der Heilige, der
Sieger bleibt?!
Quelle: Carl von Ossietzky in "Berliner Volks‑Zeitung",
12. November 1921