Rudi Dutschke (2)
Der christliche Revolutionär
Am 24. Dezember 1979, am
Heiligen Abend, starb Rudi Dutschke in der Badewanne. Vormittags war er von
einer langen Reise zurückgekehrt. Er war müde. Eine innere Aufregung belastete
ihn. Er ließ heißes Wasser in die Wanne laufen. Das Bad beruhigte ihn. Er begann
zu singen. Seine Frau Gretchen erwartete ein Kind. Er wollte die Emigration in
Dänemark aufgeben und nach Deutschland zurückkehren. Er fühlte so etwas wie
Glück. In der Küche saßen Frau und Kinder zusammen und bereiteten das Mahl vor.
Plötzlich war kein Planschen und kein Gesang mehr zu hören. Sie eilten ins
Badezimmer. Dutschke bewegte sich nicht mehr. Sein Kopf war unter die
Wasseroberfläche gerutscht. Er war ertrunken. Offenbar hatte ihn ein
epileptischer Anfall ereilt. Von äußeren Einwirkungen gab es keinerlei Spuren.
Eine Obduktion der Leiche wurde nicht vorgenommen. Dutschke hatte zwar das
Attentat von April 1968 überlebt, war jetzt aber an den Folgen seiner
Gehirnverletzungen gestorben. So jedenfalls lautete die Legende.
Dutschke hatte im Dezember
harte Tage in Bremen verbracht. Dort sollte zu Beginn des neuen Jahres 1980
eine Grüne Partei gegründet werden. Eine Bürgerbewegung hatte in der Hansestadt
Initiativen gegen den Bremer Senat gestartet, der das Ostertorviertel abreißen
wollten. Eine Autobahntrasse sollte dort gelegt werden. Die Bürger und Anwohner
waren empört. Wieso sollten alte Häuser dem Beton von Straßen weichen? Wer trug
die Verantwortung für die Planungen? Warum waren die wichtigen Entscheidungen
hinter geschlossenen Türen gefällt worden?
Dutschke dachte über den Niedergang der APO nach
Nach Dutschke waren Empörung,
aber auch der Wille, sich nicht alles bieten zu lassen, die
Entstehungsbedingungen für eine radikale Oppositionspartei. Sie mußte an
konkreten Orten ihre Grundlagen haben und in den Verhältnissen verwurzelt sein.
Eine kommunaldemokratische Ausrichtung war die Voraussetzung für Politik.
Akteure und Bürger mußten die Kandidaten kennen und ihre Arbeit beurteilen
können. Sie durften nicht aus der Anonymität eines Apparates oder des
öffentlichen Dienstes stammen. Das Grundmotiv einer derartigen
"Bewegungspartei" sollte eine enge Verbindung von Abgeordneten und
Wahlvolk darstellen. Setzte sich diese Partei bei den anstehenden Wahlen in
Bremen durch, war das Signal gegeben, über die einzelnen Wahlkampagnen in den
Städten und Regionen langfristig eine Bundespartei zu schaffen. Diese würde im
Gegensatz zu den etablierten Staatsparteien einem demokratischen Grundmuster
folgen und vermeiden, daß irgendwelche Cliquen oder Klüngel das Sagen hatten.
Dutschke dachte dabei an den
Niedergang der Außerparlamentarischen Opposition (APO) zwischen 1968 und 1970.
Nach seiner Genesung und Überwindung der Traumata eines Kopfschusses hatte er
nie verstanden, warum und woran diese Opposition zerbrochen war. Sie war
zerrieben worden zwischen der SPD und der legalisierten KPD, die nun DKP hieß
und einen Teil der APO aufnahm. Ein weiterer Teil war den Angeboten der SPD
gefolgt. Andere hatten sich der Roten Armee Fraktion (RAF), der "Bewegung
2. Juni" und der "Revolutionären Zellen" angeschlossen, wieder
andere den unterschiedlichen Kaderorganisationen oder "Putztruppen".
Nur ein kleiner Rest hatte sich um die Zeitschrift Langer Marsch geschart, um gegen den "Totalitarismus" in
den eigenen Reihen anzukämpfen. Die APO war an der Faszination der Gewalt und
an dem Machtwillen einzelner Führungsgruppen gescheitert. Der Autoritarismus
war so etwas geworden wie das Charakterbild der antiautoritären Streiter. In
ihren Kampforganisationen lernten sie nicht nur Disziplin und Ordnung, Gehorsam
und Unterwerfung. Sie folgten zugleich den dogmatischen Bildern vergangener
Revolutionen und Bürgerkriege. Zur Dämonisierung des Feindes gehörte auch die
Verachtung der Demokratie. Viele der APO‑Kämpfer gaben zu erkennen, daß
sie aus dem Schatten ihrer Eltern nicht herausgetreten waren. Dieses Mal jedoch
wurden die kommunistischen Symbole gezeigt, um eine eher konservative
Gesellschaft zu provozieren.
Nach 1977, nach den
Selbstmorden (?) von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in
Stammheim, schienen die militärischen Fronten innerhalb des Linkslagers
aufzubrechen. Der illegale Kampf mußte auf das mystische Bild von Widerstand
und "Revolution" verzichten. Die unterschiedlichen K‑Gruppen
verloren ihre wohlhabende Klientel, die Lehrer, Rechtsanwälte, Architekten und
Professoren. Im Fußvolk machte sich Zweifel breit. Die Politfirmen wurden
Zuschußgeschäfte und konnten die Berufsrevolutionäre nicht mehr ernähren.
Bürgerinitiativen und ökologische Fragen überdeckten die Phrasen und Parolen
aus China oder der DDR. Dutschke reiste ab 1977 von Ort zu Ort, von Gruppe zu
Gruppe. Er nutzte seinen Mythos des "auferstandenen Propheten", sich
Gehör zu verschaffen. Bei der Beerdigung des RAF‑Mitglieds Holger Meins
am 18. November 1974 in Hamburg reckte er die Faust, aber sein "Holger,
der Kampf geht weiter" zielte in eine andere Richtung.
Er benannte das Scheitern der
RAF. Europa war nicht vergleichbar mit Algerien oder Vietnam. Nach seiner
Überzeugung hatte ein Deal zwischen SPD und SED stattgefunden, um über einen legalen
Kommunismus in der Bundesrepublik Potentiale der APO zubinden. Die
Stellenbeschaffungen über die Gründung neuer Massenuniversitäten sollten einen
weiteren Teil des Protestes auffangen und der SPD zutreiben. Die Kaderparteien
lebten von dem Revolutionsspiel, das sie aufführten und das die Revolutionen
Asiens oder Lateinamerikas auf Europa projizierte. Alle ihre Ideologien und
Vorstellungen konnten die wirklichen Widersprüche nicht benennen. Ihre Führer
entmündigten über die organisatorische Hierarchie die Parteigänger und beuteten
sie moralisch und materiell aus. Sie lebten von den Sentimentalitäten und dem
Engagement unzufriedener Jugendgenerationen.
Dutschke hatte deshalb im
Sinn, die oberen Kader zu isolieren und auf keinen Fall in die neue
Oppositionspartei aufzunehmen. Sie hatten zur Genüge bewiesen, daß ihnen
nationale, demokratische und individuelle Interessen egal waren. Dutschke
wollte ein Bündnis mit konservativen Kräften um August Haußleiter, Herbert
Gruhl und Baldur Springmann eingehen, weil deren demokratische und ökologische Anliegen
durchaus ernst zu nehmen waren. Sie würden auf der bürgernahen und
radikaldemokratischen Ausrichtung der neuen Opposition bestehen. Die jungen
Generationen, die diese Partei tragen würden, würden den Protest sicherlich
radikalisieren.
Straßenkämpfer wollten in den öffentlichen Dienst
Er wußte von einem Gegenplan.
Die Kader der unterschiedlichen ML‑Parteien und Straßenkämpfer, die ab
1977 in den Strudel der Auflösung geraten waren, wollten eine entstehende Grüne
Partei besetzen und sich selbst eine neue "Berufung" geben. Die
basisdemokratischen Versammlungen sollten durch eine Koalition der K-Gruppen
majorisiert werden. Die Partei sollte Mehrheitsbeschaffer für die SPD werden
und den Berufsrevolutionären Positionen im öffentlichen Dienst verschaffen.
Das demokratische oder
ökologische Programm dieser neuen Partei war diesen Kadern vollkommen egal.
Ihnen ging es um die Macht und um persönliche Karrieren. Petra Kelly, Gerd
Bastian und andere wußten von diesem Deal und unterstützten deshalb Dutschkes
Oppositionsprojekt. Es war eindeutig, daß der Theoretiker und Prophet Dutschke
über die Commandantes wie Joseph Fischer oder Jürgen Trittin und ihren
männerbündischen Gefolgschaften obsiegen würde.
Der Vietnamkongreß im Februar
1968 in Berlin belegte die revolutionären Ambitionen Dutschkes. Dieses Treffen
der wichtigen revolutionären Gruppen Europas ging auf seine Initiative und
Planung zurück. Ihm ging es darum, die unterschiedlichen Ziele und Schwerpunkte
von Aktionen europaweit zu koordinieren. Er vertrat einen "Internationalismus",
der auf einen nationalen Widerstand gegen die Hegemonialmächte in Europa, gegen
die Sowjetunion und gegen die USA gerichtet sein sollte. Nach seiner
Überzeugung geriet die Großmacht UdSSR unter den Druck der unterschiedlichen
Oppositionen in der CSSR, in Polen und Ungarn. Entweder war dieser Widerstand
Anzeichen des Zerfalls der sowjetischen Vormacht, oder sie würde über
"konterrevolutionäre" Maßnahmen kurzfristig ihre Macht stabilisieren,
ehe der Zerfall einsetzte.
Die USA sah er in einer
ähnlichen Position. Sie wurde weltweit in Konflikte hineingezogen und erlebte
in Vietnam einen Verschleißkrieg, der die Proteste in den Staaten gegen den Krieg,
aber auch gegen die Herrschenden steigerte. In diesem Konflikt war ebenfalls
eine vorübergehende Konsolidierung der Großmacht denkbar, aber auch sie war
ihren wirtschaftlichen und politischen Aufgaben nicht mehr gewachsen. In West-
wie in Osteuropa sollte der Widerstand die Stabilität einer Weltordnung ins
Wanken bringen.
Dutschke ging davon aus, daß
der Zusammenbruch der Sowjetunion im geteilten Europa revolutionäre Situationen
hervorbringen würde, die es zuließen, sich aus der Obhut der USA zu befreien.
Über die unterschiedlichen Fronten und Aktionen wurde auf dem Vietnamkongreß
diskutiert.
Nach diesen Februartagen
reiste Dutschke nach Prag und nach Budapest und traf sich dort mit den
unterschiedlichen Dissidenten.
Am Gründonnerstag, den 11.
April 1968 fand am Kurfürstendamm in Berlin das Revolverattentat auf Dutschke
statt. Der 23jährige Hilfsarbeiter Josef Bachmann, ein DDR‑Flüchtling,
Kleinkrimineller aus Peine, war der Attentäter. Er trug eine Nationalzeitung mit
dem Titel bei sich: "Wer befreit Deutschland von Dutschke". Der
Vorgang schien eindeutig zu sein.
Verfassungsschutz ließ beim ZK der SED antragen
Trotzdem ließ der Verfassungsschutz
über einen Filmkaufmann in Hamburg bei Albert Norden von der Westabteilung des
ZK der SED anfragen, ob das MfS an dem Attentat auf Dutschke beteiligt gewesen
sei. Norden gab die Anfrage an Erich Mielke weiter. Dieser beauftragte einen
Generalleutnant mit der Antwort. Erst nach Wochen erhielt die SED ein
Schreiben, das besagte, daß nach dem bisherigen "Kenntnisstand" das
MfS mit dem Anschlag auf Dutschke nichts zu tun hatte. Solche Formulierung ließ
durchaus vermuten, daß andere Dienste, etwa der KGB, mit derartig
"schmutzigen Geschäften" befaßt war.
Dutschke selbst war überzeugt,
daß ihm der sowjetische Geheimdienst nach dem Leben getrachtet hatte. Er trug
einen Brief an sein "geliebtes Gretchen" mit sich herum, in dem er
festhielt, was ihm auch passieren würde, selbst ein "harmloser" und
unverdächtiger Tod, seine Frau sollte wissen, daß der KGB ihn ausschalten
wollte. Der Tod in der Badewanne 1979 schien so eindeutig zu sein, daß nicht
einmal eine Obduktion veranlaßt wurde.
Dutschkes revolutionäre
Visionen erfüllten sich 1989 durchaus. Die Sowjetunion zerbrach an ihren
inneren Widersprüchen. Diese Implosion konnte Ost‑ und Westeuropa
erschüttern, sofern es dort jeweils eine radikale Oppositionsbewegung gab. Die
Opposition war im Osten präsent, im Westen fehlte sie vollständig. Die Grünen
als Okkupationspartei der Kader interessierten sich nicht einmal dafür. Sie
waren brav und bieder und inzwischen auf die Machtbeteiligung orientiert. Die
Kader hatten die oberen Stockwerke der Partei besetzt, alle Konservativen, aber
auch den ökologischen und demokratischen Radikalismus herausgedrängt. Sie
schielten auf die gutbezahlten Positionen im Regierungslager. Inzwischen waren
sie staatstreu, prokapitalistisch und proimperialistisch und wollten sich ihren
"kleinen Verrat" gut bezahlen lassen. Die Ernte fuhren sie 1998 mit
der Regierungsbeteiligung ein.
Dutschke selbst sah sich in
der Tradition von Thomas Müntzer. Er war gegen jede Form von bürokratischer Macht
und Fremdherrschaft. Kompromisse waren ihm zuwider. Er wurde von keinerlei
Skepsis oder Zynismus bewegt. Dadurch unterschied er sich von seinen
atheistischen "Genossen". Er
folgte einem tiefen, christlichen Glauben. Er las und kannte die Bibel und
zog aus den alten Propheten Hoffnung und Mut. Jedoch wollte er seinen Glauben
nach außen tragen und nicht in Demut verglühen lassen. Dieses christliche
Denken prägte den Revolutionär Dutschke.
Prof. Dr. Bernd Rabehl, Jahrgang 1938, ehemals engster Vertrauter von
Rudi Dutschke, war einer der wichtigsten Theoretiker des Sozialistischen
Deutschen Studentenbundes (SDS), dessen Bundesvorstand er bis 1968 angehörte.
2002 veröffentlichte er die Monographie "Rudi Dutschke. Revolutionär im
geteilten Deutschland" (Edition Antaios, Schnellroda)
Quelle: JUNGE FREIHEIT 17./24. Dezember 2004
Anmerkung: Den
politischen und weltanschaulichen Überzeugungen von Rudi Dutschke, Bernd
Rabehl, Baldur Springmann und Christian Ströbele fühlt sich die Redaktion von
"luebeck-kunterbunt" auf das Engste verbunden.