Richterherrschaft ein "Adelsregime"

 

Manches hat sich tatsächlich bewegt - und sei es nur im Schneckentempo. Bonn ist nicht Weimar. Selbstkritische Reflexionen (der Richterschaft) gehören kaum noch ins Raritätenkabinett. Rainer Voss, seinerzeit der Vorsitzende des (konservativen) Deutschen Richterbundes, ist kein einsamer Rufer in der Wüste, wenn er die richterliche Unabhängigkeit als "Pfeiler des Rechtsstaats" und keineswegs als "Pfeiler der richterlichen Privilegien" präzisiert und klarstellt, daß diese Unabhängigkeit "in allererster Linie dem Bürger Schutz vor Manipulation und Willkür garantiere".

Auch Wolfgang Zeidler (Präsident und Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts von 1975 bis 1987) muß bedrohliche Tendenzen wahrgenommen haben, sonst hätte er "die Richterschaft" nicht davor gewarnt, "langfristig eine Art 'Adelsregime' anstreben" zu wollen. Er zeigte seinen Kollegen Grenzen auf: Die Justiz sei "dem Demokratieprinzip verpflichtet", sie bedürfe der Anbindung an den Prozeß der Meinungsbildung. Mit Blick auf das Erreichte fand Zeidler: "Zuviel richterliche Unabhängigkeit kann auch gefährlich werden" (Deutsche Richterzeitung 1984, 251). Diese Selbstbeschneidung dürfte ihm nicht nur Freunde eingebracht haben.

Auch Thomas Dieterich, seit 1994 Präsident des Bundesarbeitsgerichts, sah offenbar Anlaß, die Maßstäbe zurechtzurücken: Wenn das Grundgesetz die Unabhängigkeit gewährleiste, sei damit "nicht eine persönliche Vergünstigung für qualifizierte Amtsträger" beabsichtigt. "Die richterliche Unabhängigkeit ist weder Standesvorrecht noch Gratifikation". Dieterich dämpfte, wie viele andere, den Hang zur Selbstüberheblichkeit: Richter seien "keine höheren Wesen". Und er zeigte zugleich Verständnis für strenge Kritiker der Justiz: "In einer Demokratie ist Mißtrauen gegenüber der Staatsgewalt erste Bürgerpflicht" (Recht der Arbeit 1986, 3).

 

Quelle: "Vom Mythos der Unabhängigkeit" von Dr. Rolf Lamprecht, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1995

 

 

Die Verschiebung zur Irrationalität und die Verlagerung der Befugnisse des Gesetzgebers auf den Richter ist im übrigen auch dazu angetan, ein mit dem deutschen Rechtssystem grundsätzlich nicht vereinbares "Prinzip der Richteroligarchie" zu fördern. Natürlich behaupte ich nicht, daß Richter grundsätzlich selbstherrlich oder selbstgerecht seien. Es gibt hervorragende Richterpersönlichkeiten mit großer Sachkompetenz und Autorität. Aber die von Dr. Egon Schneider in seinem ZAP-Justizspiegel dargestellten Beispiele geben doch zu denken. Bleibt die unter der Ägide des Bundesverfassungsgerichts sich vollziehende Machtverlagerung vom Gesetzgeber auf den Richter und die damit verbundene Richterherrschaft völlig ohne Einfluß auf die Psyche des Richters? Führt sie nicht doch zu der Gefahr, daß jedenfalls weniger gefestigte Persönlichkeiten - und solche gibt es selbstverständlich auch unter Richtern - zur Selbstherrlichkeit und Selbstgerechtigkeit und damit zu einem unangemessenen Umgang mit Parteien und Anwälten neigen?

Professor Bernd Rüthers hat (nicht nur in seinem Werk "Die unbegrenzte Auslegung", sondern auch) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 2.2.2000 unter dem Titel: "Auf dem Weg zum Richterstaat" die Entwicklung einleuchtend dargelegt. Nach seiner Auffassung war das Recht im Kern eine ideale objektive Vorgegebenheit, die Ausprägung einer überzeitlichen objektiven Rechtsidee. Diese Vorstellung sei durch die praktischen Erfahrungen der Generationen seit 1918 nachhaltig in Frage gestellt. Die gängigen Lehr- und Handbücher zur juristischen Methodenlehre verschweigen und verdrängen die politischen Irrwege und Erblasten ihrer Disziplin. Die Methodik der Obersten Bundesgerichte heute bedeutet - wie Bernd Rüthers zutreffend ausführt - im Ergebnis den fortgesetzten methodisch rechtspolitischen Blindflug der Rechtsanwender und die verdeckte Anmaßung richterlicher Gesetzgebung an der Verfassung vorbei. Diese so genannte Methode gewährt den subjektiven Regelungswünschen - so Rüthers - und Rechtsidealen der Richter den weitest möglichen Spielraum, notfalls auch gegen das geltende Gesetz. Die Auslegungsmethode der Obergerichte ist wissenschaftlich nicht begründbar, sondern dient nur dazu, die Macht zur Rechtssetzung von der Gesetzgebung auf die Obersten Bundesgerichte umzuverteilen. Rüthers folgert deswegen zutreffend: Diese Methode ebnet den Weg von der rechtsstaatlich organisierten parlamentarischen Demokratie zum oligarchisch aristokratischen Richterstaat, der von den letzten Instanzen beherrscht wird. Unbefangen - so Rüthers - werden bis heute Scheinargumente verwendet, die die eigenwillige richterliche Normsetzung als scheinbar wissenschaftlich begründete Auslegung etikettieren. Dazu gehören Mystifikation wie Argumente aus dem Wesen von Einrichtungen, aus der Natur von Sachen, aus dem Kern von Vorschriften oder aus angeblich "objektiv teleologischen" Kriterien.

Bernd Rüthers hat Recht. Die von ihm geschilderte Entwicklung zum oligarchisch aristokratischen Richterstaat ist nicht nur ein methodischer Irrweg, sondern birgt außerdem die Gefahr, daß jedenfalls weniger gefestigte Richterpersönlichkeiten ihre Funktion und Bedeutung überschätzen und das den Rechtsunterworfenen deutlich spüren lassen. Egon Schneider hat das mit vielen Beispielen in seinem Justizspiegel belegt. Jedem Anwalt sind aus seiner Praxis Fälle bekannt, die diese These bestätigen.

 

Quelle: ZAP - Sonderheft für Dr. Egon Schneider (zu seinem 75. Geburtstag)