Von Joachim Hellmer
Es gibt eine ausgedehnte Praxis, "Querulanten" und andere unliebsame
Personen mit Hilfe des ärztlichen Sachverständigen mundtot zu machen.
Berühmt-berüchtigt sind zum Beispiel die Zwangspensionierungen von Beamten, die
den Staat - aus berechtigten oder unberechtigten Gründen - unbequem ,
vielleicht sogar (wegen des behördeninternen Wissens ) gefährlich geworden
sind. Gehen diese gegen Ihre Entlassung gerichtlich vor, was Ihr gutes Recht
ist, rettet sich der Staat vor einer Nachprüfung seiner Entscheidung nicht
selten durch Einschaltung eines ärztlichen Gutachters, der entweder
Dienstunfähigkeit attestiert oder gar Querulantenwahn diagnostiziert wobei
schon Aberkennung der Prozeßfähigkeit genügt um den Beamten unschädlich zu
machen. Es muß Ihm dann ein Pfleger (nach heutigem Recht ein Betreuer) bestellt
werden der von sich aus entscheidet ob die Klage erhoben oder weiterverfolgt
wird.
Vielleicht widerspicht schon das leicht zerbrechliche Institut der
Prozeßfähigkeit dem Grundsatz von der Würde des Menschen un der Gleichheit
aller vor dem Gesetz. Das eigentliche Übel liegt aber in der
Unkontrollierbarkeit und jedem Mißbrauch zugänglichen Aussage des
Sachverständigen. Hier werden unter dem Anschein objektiver Tatsachen oft reine
Meinungen geäußert, die zudem nach in der Regel höchst umstritten und beliebig
manipulierbar sind. Am gefährlichsten ist die immer wieder auftauchende
Bezeichnung "Querulant" (oft in Verbindung mit "progressivem
Wahn" oder "Pschychopathie", um dem Meinungsurteil einen
wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen).
Querulanz ist weder eine Geisteskrankheit noch ein die Geschäfts-, Prozeß- oder
Zurechnungsfähigkeit berührender Zustand, sondern die hartnäckige Kritik und
furchtloser Widerspruch gegen irgendwelche Zu- oder Mißstände, meistens
besonders intelligenter und sensibler Menschen, gewiß oft überzogen und
eskalierend bis zum Exzeß. "Querulant" war z.B. Michael Kohlhaas,
"Querulanten" waren aber auch Luther, Voltaire, Galilei und Giordano
Bruno, Fritz Reuter, Heinrich Mann. "Querulanten" sind Martin
Niemöller, Sacharow und Solchenizyn. Wenn es keine Querulanten gäbe, wäre die
Welt ärmer. Das weiß auch unser Staat, der Querulantentum allgemein gewähren
läßt, vor allem aber die vielen kleinen, Behörden und Justiz arg belästigenden
Querulanten. Nur wenn gegen den Staat selber geklagt wird, wenn seine eigenen
Entscheidungen, seine eigene Praxis überprüft werden sollen, dann ist seine
Liberalität, sein Rechtsstaatsverständnis zu Ende, dann entpuppt er sich
plötzlich als legitimer Nachfolger jenes preußischen Staates, in dem
Querulantentum unter Strafe stand (Preußische Gerichtsordnung von 1795).
Der Begriff "Querulanz" sollte aus dem Vokabular der
Sachverständigen ein für alle Male gestrichen werden. Wo dieser Begriff in
einem Gutachten vorkommt, sollte man gleich wissen, daß gegen den Beurteilten
nichts Fundiertes vorzubringen ist, daß kein wirklich krankhafter Befund
vorliegt, geschweige denn eine Geisteskrankheit, sondern eine gesunde , aber
unbequeme Person zum Schweigen gebracht, statt Freiheits- oder Geldstrafe eine
"Äußerungsstrafe" verhängt werden soll.
Medizinische Gutachten werden vom Staat auch noch auf anderen Gebieten als
Waffe eingesetzt. Es ist Bekannt, daß er jede Person, die er einzustellen
gedenkt, auf Ihre Gesundheit untersuchen läßt. Statt der Privatwirtschaft mit
gutem Beispiel voranzugehen, betätigt er sich aber als sozialpolitischer
Bremser. Einmal stellt er bei weitem nicht die vorgeschriebene Zahl von
Behinderten ein und zahlt lieber die dafür vorgesehene Ausgleichsabgabe (was
den öffentlichen Haushalt zusätzlich belastet), ferner läßt er - mit Hilfe
ärztlicher Gutachter - die dennoch Eingestellten als Widerrufsbeamte oder
Angestellte arbeiten, also mit geringerem Kündigungsschutz, niedrigerem Gehalt
und geringeren Aufstiegschancen. Sie sind obwohl sie das gleiche tun wie
Beamte, Staatsdiener zweiter Klasse und könne auch nichts dagegen unternehmen,
weil ja ärztliche Gutachten nicht und nur unter unverhältnismäßigen Anstrengungen
korrigierbar sind. Vor kurzem bot der Staat einem Wissenschaftler nach
zwanzigjährigem Angestelltenstatus schließlich doch noch die Verbeamtung an!
Der Gutachter, der bei der Einstellung vorzeitige Dienstunfähigkeit
vorausgesagt hatte, war seinem Irrtum unterlegen.
Das ärztliche Gutachten ist - solange diese Praxis nicht allgemein durchschaut
ist - eine Waffe, die durch wissenschaftliche Herkunft den Anschein von
Unanfechtbarkeit besitzt. Sie ist praktisch unanfechtbar, aber nicht durch den
Wahrheitsgehalt, sondern durch Fehlen einer unabhängigen Instanz, die dem
Sachverständigen - und damit der öffentlichen Gewalt, die sich seiner bedient -
auf die Finger klopft. Die deutschen Gerichte sind - trotz ermutigender
Ausnahmen - noch weit davon entfernt eine solche unabhängige Instanz
darzustellen.
· Joachim Hellmer war seit
1966 Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Kiel und seit
1971 Direktor des Kriminologischen Instituts dieser Universität. Als Emeritus
ist er 1991 in Goslar verstorben. In die gleiche Kerbe schlägt sein Buch
„Anpassung oder Widerstand“ (ISBN 3-7201-5201-4).
· Auf diesen Aufsatz wird in
dem ZPO-Kommentar von Baumbach-Lauterbach-Hartmann- Albers, 46. Aufl, Einl III, 6 A. , Rn
67; so auch 51.
Aufl, 6 B. Rn 66
hingewiesen.