Keine antisemitischen Reaktionen
Der Schriftsteller Jurek Becker ist am 14. März 1997 an Krebs gestorben.
Es folgt ein Auszug aus dem letzten Interview, welches der Autor des
Welterfolgs "Jakob der Lügner" der Fotografin Herlinde Koelbl Mitte
Februar gab und das der SPIEGEL veröffentlichte: ...
FRAGE. Hat es Ihr Selbstverständnis und Ihre Arbeit deutlich
geprägt, daß Sie Jude sind?
Becker: Nun, das sagen Sie so leichthin. Ich würde mit Ihnen
zunächst über die Frage streiten, ob ich Jude bin oder nicht. Daß meine Eltern
Juden waren, das steht ganz außer Frage. Nur: Ich finde es spannend zu fragen,
ob Leute, deren Eltern Juden sind, wirklich auch Juden sind. Dieser Meinung waren zum Beispiel die Autoren der Nürnberger Rassengesetzgebung, dieser Meinung sind
auch orthodoxe Juden. Aber ich wünschte mir, daß ich mir das selber aussuchen
könnte. Es ist natürlich nicht so, daß ich das verbergen will. Gucken Sie sich
meine Bücher an, die sind voll davon. Aber ich wünsche mir, aussuchen zu
dürfen, wer ich bin. Ich weiß, daß man das nur in Maßen kann, und ich weiß,
daß, ob man will oder nicht, man auch derjenige ist, für den die anderen einen
halten. Davor gibt es keine Rettung. Ich bin mir bewußt, daß das, was Sie Jude‑Sein
nennen, also jüdische Kultur, in hunderterlei Beziehung für mich eine Rolle
gespielt hat.
FRAGE: Was ist jüdische Identität eigentlich?
Becker: Ich bin weit entfernt davon, Ihnen darauf antworten zu
können. Ich weiß, daß das ein Volkssport in Israel ist und sich in Brooklyn
viele mit dieser Frage befassen. Kaum sind zwei Juden beisammen, schon wird
genau darüber geredet. Ich bin nicht unentwegt auf Identitätssuche. Ich weiß,
daß ich ohne diese konkrete Herkunft ein völlig anderer wäre. Daß ich einen
anderen Geschmack hätte, andere Vorlieben, eine andere Vorstellung von
Gerechtigkeit, von Sprache, von Erzählen, von Witz, der Himmel weiß, wovon. Das
ist überhaupt keine Frage. Die Frage ist nur, ob das Jude‑Sein bedeutet.
Sie können sagen, ja, daß es das ist, Sie können sagen, nein, das ist es nicht,
Sie können sagen, ich weiß es nicht.
FRAGE: Wurden Sie wegen Ihrer jüdischen Herkunft jemals
diskriminiert?
Becker: Ich hatte es ‑ das ist wahrscheinlich Glück,
vielleicht Zufall, vielleicht nicht ‑ niemals mit antisemitischen
Reaktionen auf mich zu tun, nie, nicht eine Sekunde, weder in der DDR noch seitdem ich im Westen bin, also
seit 1977. Obwohl ich mich nicht wie
ein hundertprozentiger Jude fühle, wäre meine Reaktion darauf so, als wäre ich
ein zweihundertprozentiger, und ich warte auf solche, was heißt, ich warte
nicht, aber ich denke mir, daß ich solche Reaktionen auf mich mit einer
geballten Pistolenladung in der Tasche aufnehmen würde.
Also: Ich kann mir nicht
vorstellen, daß ich ein Dulder bin, sondern ich finde, daß die einzige gemäße
Methode, Antisemitismus entgegenzutreten, aggressiv zu sein hätte. Es gibt
keine andere, finde ich. Es gibt keine andere, die ein gewisses Maß an Würde
wahrt. Und ich kann mir nicht vorstellen, solchen Manifestationen
verständnisvoll oder freundlich oder nachsichtig gegenüberzutreten. Ich mag
mich auch nicht mit den Gründen für Antisemitismus beschäftigen. Ich
beschäftige mich nicht damit, die Gründe kennt man, die sind sozusagen zu Ende gedacht, das ist kein Forum, um Erkenntnistiefe
zu demonstrieren. (...)
Quelle: DER SPIEGEL 13 / 1997 / 210 - 216 (215 f)
Anmerkung: Wenn ein deutscher Schriftsteller mit Weltruhm und den daraus
folgenden erheblichen sozialen Kontakten sagt, er habe als Jude weder in der
DDR noch in der BRD antisemitische Anfeindungen erlebt, sollte Daniel Goldhagen
in sich gehen und seine These von dem Judentötungsgen der Deutschen mit dem
Ausdruck höchsten Bedauerns zurücknehmen.