Neudeutsch
Das Wort
Neudeutsch ist nicht mit dem gleichnamigen Grünkohl zu verwechseln, obgleich
ja beide aus der Zusammenziehung eines Adjektivs und eines Substantivs zu neuem
Hauptwort und Begriff entstanden sind. Dieses Neudeutsch ist etwas ganz Furchtbares.
Wir wollen einmal zum guten
Alten zurückgreifen und im Wustmann nachlesen, was denn da steht. Der gute alte
Wustmann! Er hat sich wahrscheinlich eine Walze im Grab anbringen lassen, und
da dreht er sich nun ununterbrochen herum, wenn er das hören muß, was man
heutzutage so Sprache nennt. Er hat gesagt: «... die schönen neumodischen
Zusammensetzungen, mit denen man sich jetzt spreizt, wie: Fremdsprache,
Neuerkrankung, Erstdruck, Höchststundenzahl! Hier leimt man also einen
Adjektivstamm vor das Hauptwort, statt einfach zu sagen: höchste Stundenzahl
undsoweiter.» Und er fragt, worin denn das Abgeschmackte solcher
Zusammensetzungen liege. Es gebe doch deren eine ganze Menge, wie Sauerkraut
und Süßwasser, Hochverrat, Vollmacht und dergleichen mehr. Und er fährt zu
rechten fort — hör zu, o Neuzeit!
«Nun stecken dem Deutschen zwei Narrheiten tief im Blute: erstens, sich
womöglich immer auf irgendein Fach hinauszuspielen, mit Fachausdrücken um sich
zu werfen, jeden Quark anscheinend zum Fachausdruck zu stempeln; zweitens,
sich immer den Anschein zu geben, als ob man die Fachausdrücke aller Fächer und
folglich die Fächer auch selbst verstünde. Wenn es ein paar Buchhändlern
beliebt, plötzlich von Neuauflagen zu reden, so denkt der junge Privatdozent:
Aha! Neuauflage — schöner neuer Terminus des Buchhandels, will ich mir merken
und bei der nächsten Gelegenheit anbringen. Der gewöhnliche Mensch sehnt sich
nach frischer Luft. Wenn aber ein Techniker eine Ventilationsanlage macht, so
beseitigt er die Abluft und sorgt für Frischluft. Im gewöhnlichen Leben spricht
man von einem großen Feuer. Das kann aber die Feuerwehr doch nicht tun; so gut
sie ihre Spritzen und ihre Helme hat, muß sie auch ihre Wörter haben. Der
Branddirektor kennt also nur Großfeuer.»
Hörst
du, wie er sich dreht? Und das täte auch ich im Grabe, wenn ich das mitanhören
müßte, was sich heute begibt. Da gibt es einen Großkampftag und eine
Großpatrouille und einen Feindangriff und Altkleider und Frischwasser und
Frischgemüse und alles Mögliche gibt es, nur keine anständigen richtigen
deutschen Wörter. Sondern ein lallendes Gestammel wichtigtuerischer
Journalisten und aufgeblähter Bürokraten. Man hört ordentlich, wie der, der so
ein scheußliches Wort sagt, mit der göttlichen, <beziehungsweise> deutschen
Weltordnung im reinen ist und artig die Wörter nachplappert, die eine
vorgesetzte Dienststelle zuerst gebraucht hat. Und dieses Zeugs sickert von den
politischen Aufsätzen langsam in die Sprache ein, und nächstens wird einer
noch etwas darauf reimen.
Nichts
aber, Wustmann, der du dich noch immer drehst, geht über das schöne teutsche
Wort Belange. Das habe ich mir nicht ausgedacht; das ist neudeutsch und heißt:
Interessen. Nun hat mein kleines Fremdwörterlexikon von Lohmeyer, das der
Deutsche Sprachverein herausgegeben hat, für Interesse allerhand
Verdeutschungen, aber um sich jeweils eine herauszusuchen, die paßt, muß man
Sprachgefühl haben, und das haben sie nicht. Dafür schreiben sie (die <Süddeutschen
Monatshefte>) so: «Abwägung einander entgegenstehender Belange und dementsprechend
Hintansetzung eines an sich zweifellos bestehenden aber in dem vorliegenden
Widerstreit als minderwichtig erfundenen Rechts lassen ja selbst bürgerliche
Rechtsordnungen wie die unsre in gewissen Fällen, besonders im Notstand, zu.»
Es
wäre nun viel belangerer gewesen, wenn der Verfasser dieses Sätzchens ruhig
Interessen geschrieben hätte, aber dafür alles andre deutsch; leider hat ers
umgekehrt gemacht. (<Zulassen> ist viel zu weit auseinandergerissen,
<zu> klappt hinten nach; der Genetiv <Rechts> ist mit Partizipien
überlastet; in den dicken Blöcken der langweiligen Substantive liegt ein
kleines Rinnsal eingebettet: das Verbchen <lassen>. Chinese.)
Sie
lernens nicht. Und es ist schon das Gescheiteste, sie mit all ihren schönen
neudeutschen Telegramm-Wörtern, ihrem Übersetzungsdrehwurm und ihrem
Fachwörterkram stehen und liegen zu lassen und sich <seinerseits> einer
anständigen und säubern Ausdrucksweise zu befleißigen. Das Neudeutsch aber soll
der Teufel holen. Und der wird sich schwer hüten: denn der Teufel ist ein Mann
von Jahrhunderte altem Geschmack.
Quelle: Kurt Tucholsky (1918)
Dieser gelungenen Verteidigung der deutschen Sprache durch den Altmeister wollen wir – auch, da aus dem gleichen Jahr – einen Auszug aus dem Vorwort des Verdeutschungswörterbuchs „Entwelschung“ von Eduard Engel anfügen. Jeder mag heute für sich entscheiden, wo die Grenze zwischen üblem Denglisch und altbackener Deutschtümelei ist. Einst aber ist gewiß: Die Sprache Luthers, Goethes, Schillers, Büchners und vieler anderer mehr hat allemal Schutz, Bewahrung, Pflege, Verteidigung und Verbreitung verdient:
„Vom Welschen und
Entwelschen – Für deutsche Leser, Sprecher und Schreiber ist dieses Buch
bestimmt, also für gebildete Deutsche; jedoch nur für solche, die eines guten
Willens zur deutschen Sprache sind und nach dem Worte tun wollen: „Lasset uns
von aller Befleckung des Geistes uns reinigen“ (2. Korinther, 7, 1). Der Leser,
der dem Welsch deutscher Bücher, Zeitungen, Schriftstücke ratlos gegenübersteht,
soll Rat finden, was der welschende deutsche Schreiber gemeint haben mag. Der Sprecher
soll sich belehren, wie man die einfachsten und die schwierigsten menschlichen
Begriffe, das heißt Küchenlateinisch, Apothekergriechisch, Kellnerfranzösisch,
Stallknechtenglisch, Leierkastenitalienisch bezeichnet werden dürfen, ebenso
gut und besser auf Deutsch ausdrücken kann, zu leichterem Verständnis, mit
stärkerer Wirkung, nicht erst zu reden von der deutschen Würde. Und der
deutsche Schreiber mit sprachlichem Kunst- und Ehrgefühl, der durch
lebenslange Verbildung und Entwöhnung fest im Welsch haftet, sich aber von
dieser entwürdigenden Natur- und Kunstwidrigkeit befreien und zu reiner, edler
Ausdrucksform emporläutern will, soll liebreiche Hilfe finden, so reich, wie
ich sie zu bieten und der im Kriege verteuerte Raum sie zu gestatten vermag.
Wer durchaus nicht Deutsch schreiben will; wer für seine Gedanken das mit
zerfransten bunten Lumpen aus sechs Fremdsprachen beflickte Sprachkleid
schöner, vornehmer, gebildeter findet; wer durchaus „unsrer Sprache die Zähne
ausbrechen und den Fremden nur nachmummeln will“ (Luther) -, der braucht dieses
Buch nicht, denn er hat ja die Wörterbücher der fremden Sprachen als seine
unerschöpflichen Ausdrucksquellen zur Hand.“ (...)
Quelle: „Entwelschung.
Verdeutschungswörterbuch für Amt, Schule, Haus, Leben“ von Eduard Engel,
11.-20. Tausend, Hesse & Becker Verlag, Leipzig 1918, S. 5