Karl Marx zur Judenfrage

 

(...) Die Frage nach der Emanzipationsfähigkeit des Juden verwandelt sich uns in die Frage, welches besondere gesellschaftliche Element zu überwinden sei, um das Judentum aufzuheben? Denn die Emanzipationsfähigkeit des heutigen Juden ist das Verhältnis des Judentums zur Eman­zipation der heutigen Welt. Dies Verhältnis ergibt sich notwendig aus der besonderen Stellung des Judentums in der heutigen geknechteten Welt.

Betrachten wir den wirklichen weltlichen Juden, nicht den Sabbathjuden, wie es Bauer tut, sondern den Alltags­juden.

Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheim­nis der Religion im wirklichen Juden. Welches ist der weltliche Grund des Judentums ? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Scha­cher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld. Nun wohl! Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also vom praktischen realen Juden­tum wäre die Selbstemanzipation unserer Zeit. Eine Organisation der Gesellschaft, welche die Vorausset­zungen des Schachers, also die Möglichkeit des Schachers aufhöbe, hätte den Juden unmöglich gemacht. Sein reli­giöses Bewußtsein würde wie ein fader Dunst in der wirk­lichen Lebensluft der Gesellschaft sich auflösen. Anderer­seits : Wenn der Jude dies sein praktisches Wesen als nich­tig erkennt und an seiner Aufhebung arbeitet, arbeitet er aus seiner bisherigen Entwicklung heraus, an der mensch­lichen Emanzipation schlechthin und kehrt sich gegen den höchsten praktischen Ausdruck der menschlichen Selbst­entfremdung.

Wir erkennen also im Judentum ein allgemeines gegen­wärtiges antisoziales Element, welches durch die geschicht­liche Entwicklung, an welcher die Juden in dieser schlech­ten Beziehung eifrig mitgearbeitet, auf seine jetzige Höhe getrieben wurde, auf eine Höhe, auf welcher es sich not­wendig auflösen muß.

Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeu­tung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum.

Der Jude hat sich bereits auf jüdische Weise emanzipiert. „Der Jude, der in Wien zum Beispiel nur toleriert ist, be­stimmt durch seine Geldmacht das Geschick des ganzen Reiches. Der Jude, der in dem kleinsten deutschen Staate rechtlos sein kann, entscheidet über das Schicksal Eu­ropas.“

„Während die Korporationen und Zünfte sich dem Juden verschließen, oder ihm noch nicht geneigt sind, spottet die Kühnheit der Industrie des Eigensinns der mittelalterlichen Institute.“   (Bauer, Judenfrage.)

Es ist dies kein vereinzeltes Faktum. Der Jude hat sich auf jüdische Weise emanzipiert, nicht nur, indem er sich die Geldmacht angeeignet, sondern indem durch ihn und ohne ihn das Geld zur Weltmacht und der praktische Juden­geist zum praktischen Geist der christlichen Völker ge­worden ist. Die Juden haben sich insoweit emanzipiert, als die Christen zu Juden geworden sind.

„Der fromme und politisch freie Bewohner von Neueng­land,“ berichtet zum Beispiel Oberst Hamilton, „ist eine Art von Laokoon, der auch nicht die geringste Anstrengung macht, um sich von den Schlangen zu befreien, die ihn zu­sammenschnüren. Mammon ist ihr Götze, sie beten ihn nicht nur allein mit den Lippen, sondern mit allen Kräften ihres Körpers und Gemütes an. Die Erde ist in ihren Augen nichts anderes, als eine Börse, und sie sind überzeugt, daß sie hienieden keine andere Bestimmung haben, als reicher zu werden, denn ihre Nachbarn. Der Schacher hat sich aller ihrer Gedanken bemächtigt, die Abwechslung in den Gegenständen bildet ihre einzige Erhebung. Wenn sie reisen, tragen sie, sozusagen, ihren Kram oder Kontor auf dem Rücken mit sich herum und sprechen von nichts als Zinsen und Gewinn, und wenn sie einen Augenblick ihre Geschäfte aus den Augen verlieren, so geschieht dies bloß, um jene von anderen zu beschnüffeln.“

Ja, die praktische Herrschaft des Judentums über die christliche Welt hat in Nordamerika den unzweideutigen, normalen Ausdruck erreicht, daß die Verkündigung des Evangeliums selbst, daß das christliche Lehramt zu einem Handelsartikel geworden ist, und der bankerotte Kaufmann im Evangelium macht, wie der reichgewordene Evangelist in Geschäftchen. (...)

 

Quelle: „Karl Marx zur Judenfrage“, Berlin 1919, S. 41 – 44

 

Anmerkung: Der allseits als Begründer des Marxismus bekannte Karl Heinrich Marx wurde am 5.5.1818 in Trier geboren. Er verstarb am 14.3.1883 in London. Vater und Mutter stammten aus alten Rabbinerfamilien. Mardochai war der jüdische Familienname seines Vaters, eines Rechtsanwalts, der 1824 mit seiner Familie zum Protestantismus übergetreten war. Nach juristischen, philosophischen und geschichtlichen Studien in Bonn und Berlin folgte Marx der Philosophie Hegels. Durch den Einfluß Feuerbachs wandte er sich von der idealistischen Philosophie ab und später dem Sozialismus zu.