Lübeck - heimlich

 

Lübeck gibt es tatsächlich. Ordnungsgemäß an der Trave gelegen, vom Hostentor gekennzeichnet, das nun auch der allerletzte Deutsche vom alten Fünfzigmarkschein kennengelernt hat, bewohnt von Kaufleuten, Handwerkern, Senatoren, noch einigen wenigen Werftarbeitern und vielen aufsässigen Schülern, ist diese Stadt für jedermann erreichbar. Und wie andere Städte auch, die sich hinsichtlich der Lebensqualität von einem Kuhdorf abheben wollen, hält Lübeck seine eigentümlichen Angebote bereit: die 1817 von der Gemeinnützigen gegründete Sparkasse zu Lübeck, die heute noch als Stiftung betrieben wird und sich wohltuend von dem Manchester-Kapitalismus anderer Großbanken durch den Vorrang ihrer Beschäftigungspolitik abhebt, gewaltige gotische Backsteinkirchen, Salzspeicher, Marzipan und ein Rathaus, das vielleicht das schönste in Deutschland sein könnte. Die Ausdehnung der Stadt ist vermessen und in Quadratkilometern mit einigen Stellen hinter dem Komma erfaßt, der Verbrauch an Strom und Wasser, das hoffentlich nicht so bald von der Schönberger Giftmüllbrühe verseucht wird, kann den städtischen Websites entnommen werden, das Adreßbuch gibt Auskunft über die Einwohner und die Straßen und welche Bedeutung ihre Bezeichnungen haben. Man könnte meinen, Lübeck sei eine Stadt unter anderen Städten. Wer das so oberflächlich zu glauben bereit ist, mag sich täuschen.

Was, wenn das real sichtbare Lübeck nur eine Voraussetzung, eine Hülle für das heimliche Lübeck ist? Wenn die Stadt, die wir sehen und mit Händen greifen können, nur ein Anlaß, eine Möglichkeit ist für "lübschen" Traum? Wenn, anders gesagt, in der jederzeit auffindbaren Stadt noch eine zweite Stadt gleichen Namens existiert, schwankend, geisterhaft, und dennoch erfahrbar? Ich glaube, es gibt Belege dafür, daß Lübeck keine Stadt unter anderen ist, daß es nicht nur von einer polizeilich gemeldeten, sondern auch von einer heimlichen Bevölkerung bewohnt ist, auch wenn sich dies nicht jedermann erschließen mag. Um nicht voreilig dem Vorwurf der "Spökenkiekerei" oder sogar des "Meschugge-Seins" ausgesetzt zu werden, mag Geist und Wissen eines Thomas Mann beschworen werden; ein Poet, der sich  seinem Bruder Heinrich gleich, wie kaum ein anderer an Heimatstadt und Vaterland gerieben hat und auch reiben mußte, weil sie beide beides unsagbar liebten. Ihm, der sich schon in jungen Jahren davon gemacht hatte, blieb noch fünfzig Jahre später die unauslöschliche Erinnerung daran, wie tief Lübeck im gotischen Mittelalter verhaftet blieb: "...und dabei denke ich nicht nur an das spitz getürmte Stadtbild mit Toren und Wällen, an die humoristisch-makabren Schauer, die von der Totentanz-Malerei in der Marienkirche ausgingen, die winkeligen, verwunschen anmutenden Gassen, die oft nach alten Handwerkszünften, den Glockengießern, den Fleischhauern benannt waren, und an die pittoresken Bürgerhäuser. Nein, in der Atmosphäre selbst war etwas hängen geblieben von der Verfassung des Menschengemütes - sagen wir: in den letzten Jahrzehnten des fünfzehnten Jahrhunderts, Hysterie des ausgehenden Mittelalters, etwas von latenter seelischer Epidemie. Sonderbar zu sagen, von einer verständig-nüchternen modernen Handelsstadt, aber man konnte sich denken, daß plötzlich hier eine Kinderzug-Bewegung, ein Sankt-Veits-Tanz, eine Kreuzwunder-Exzitation mit mystischem Herumziehen des Volkes oder dergleichen ausbräche, - kurzum, ein altertümlich-neurotischer Untergrund war spürbar, eine seelische Geheimdisposition...."

Bei "lübschem" Wetter wird man solches bald gewahr: da erkennt man, womöglich hinter bleigefaßten Fensterscheiben, Merkur beim Dämmerschoppen; hier fühlt er sich wohl wie nirgendwo sonst. Bei Westwind hört man den mächtigen Bürgermeister Wullenweber unter der Folter stöhnen. Buddenbrook und Leverkühn sitzen bei einer Flasche Bordeaux im Ratskeller, um sich über ihren gemeinsamen - ungeheuer respektlosen - Autor zu beschweren, und der Verdruß auf den Gesichtern der Primaner rührt daher, daß Professor Unrat ihnen unlösbare Aufsatzthemen gestellt hat; dieser miese Tyrann.

Wie gesagt, nicht jedem erschließt sich dieses "heimliche Lübeck". Aber, wer sich redlich bemüht, den werden die Seelen der Altvorderen an die Hand nehmen und vielleicht an einem brütendheißen Hochsommertag in die Kühle von Sankt Marien geleiten, damit der Fremde erfahre, welch heiliger Ort sich hinter spröder Backsteingotik verbirgt. Der Fremde mag seiner Phantasie freien Lauf lassen und sich im Angesicht der riesigen Klamotte am Marienkirchhof vorstellen, wie die hintersinnigen Maurergesellen vor vielen Jahrhunderten offenbar frei von Furcht den Leibhaftigen für sich rackern ließen, um dann aber doch seinen Zorn mit der Errichtung der Ratskellerkneipe zu besänftigen. Welch unübertrefflicher Mutterwitz!

Bei dem Versuch, sich dem "heimlichen Lübeck", dem Phänomen hinter der Fassade, zu nähern, darf der Suchende natürlich die Wirtshäuser nicht auslassen, sei es der Germanistenkeller, die Schiffergesellschaft oder die Gewölbe unter dem Heiligen-Geist-Hospital. Nur wer weiß, was die Urbevölkerung ißt und trinkt und wo sie sich wohl fühlt, kann in ihr Gemüt schauen.

Wer sich so kundig zu machen versucht hat, wird die vielfach zitierten Lästerungen als verkappte scheue Huldigungen erkennen und die unaufdringliche Art des Umgangs mit dem Spott als gelassene Selbstironie bewundern.

 

(in freier Anlehnung an "Lübeck gibt es" von Siegfried Lenz)