Lob der Rätedemokratie

 

Das Rätewesen ist berufen, den westlichen Parlamentarismus abzulösen, dessen Bankrott, zum mindesten für Deutschland, durch die Nationalversammlung offenkundig geworden ist.

 

Wir waren parlamentsmüde, bevor wir Parlamentarismus kannten, doch hofften viele, eine echte Verantwortung werde die Substanz der Parlamente bessern. Das Gegenteil geschah. Wir sind so unpolitisch, unser Parteiwesen ist so tief in Biertisch- und Vereinsklüngelei, in den Kult von Ortsgrößen, Wirtshausrednern und öffentlichen Phrasendreschern versunken, daß allgemeine Volkswahl in mehrjährigem Abstand, von Parteimaschinen geleitet, Versammlungen zutage fördern muß, die tief unter der Ebene europäischer Parlamente stehen. Solchen Häusern und ihren beauftragten Ministern kann das Schicksal des Landes nicht anvertraut werden, ebenso gut könnte man es einer Börse der Vereine und Verbände überlassen.

 

Die Räte sind Wahlkörper, die dauernd lebendig bleiben, Fühlung mit den Massen behalten und auf Grund eines fortwährenden Wettkampfes ihre befähigteren Elemente in die jeweils engeren Körperschaften aufsteigen lassen. Sie sind dem Parteiwesen zugänglich, dem starren Vereinswesen jedoch nicht unterworfen, Anciennitätsrechte der Trägheit und Beliebtheit finden nicht statt. Die Räte, in ihrer primitiven Entstehung und Form, in ihrer ungeschulten Methode und unzulänglichen Erfahrung haben in sechs Monaten in Deutschland mehr Initiative, eigene Gedanken und Richtkraft gezeigt, als die deutschen Parlamente in fünfzig Jahren, von der Komitragik der Nationalversammlung zu schweigen.

 

Quelle: Walther Rathenau in „Kritik der dreifachen Revolution“, 1919, S. 56

Anmerkung: Walther Rathenau (1867 – 1922) war Jude, Politiker und Industrieller (AEG). Vor dem Ersten Weltkrieg war er Inhaber von 130 Aufsichtsratsmandaten. Bei Beginn des Ersten Weltkrieges baute er die Rohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium auf. Nach dem Kriege war er 1921 Wiederaufbauminister und 1922 Reichsaußenminister. Am 24.6.1922 wurde er von Rechtsradikalen ermordet.

Der oben wiedergegebene Textabschnitt hat heute immer noch ungeminderte Relevanz was die (wahrscheinlich zwingenden) Fehlentwicklungen der repräsentativen und die Vorteile der direkten Demokratie anbetrifft. Auch wenn man heute das Rätesystem als durch den Niedergang und das Verschwinden des Sozialfaschismus im Ostblock als diskreditiert ansehen sollte, sollten wir an effektiven Änderungen unseres – mit echter Demokratie kaum noch etwas gemein habenden – parlamentarischen Systems arbeiten. Dabei kann es nicht oft genug wiederholt werden, daß es die CDU/CSU war, die im Bundestag den Vorstoß der rot-grünen Regierung zur Einführung von Plebisziten auf Bundesebene verhinderte. Die in der Schweiz vorgesehenen weitreichenden Möglichkeiten, durch Volksentscheide parlamentarische Fehlentscheidungen zu vermeiden oder zu korrigieren, sind allemal besser als die bundesrepublikanische Pseudodemokratie, in der seit Jahren in fast allen wichtigen Bereichen gegen den (demoskopisch festgestellten) Volkswillen entschieden wird.