„Meine Eltern waren Einwanderer. Sie kamen, weil Amerika etwas
bedeutete, die Freiheitsstatue und all das. Weil Amerika die Bastion der Moral
und der Integrität war, weil man da neu anfangen konnte. Und nun liegt es offen
vor uns, nicht versteckt, dass sie uns dies alles genommen haben.“
Vielleicht sagt diese Äußerung Seymour Hershs über seine Familie mehr
aus als alles, was über ihn geschrieben wurde. Etwa, er sei der größte
muckraker Amerikas. Im Lexikon wird dieses Wort reichlich frei übersetzt als
„einer, der nur auf Sensationen aus ist“. Aber muck ist eben stinkender Dreck,
Mistbrühe. Und rake ist ein Rechen, wie make machen ist, vielleicht auch eine
Harke. Ein muckraker ist einer, der stinkenden Dreck, Mistbrühe, aufwühlt, so
dass allen der Gestank in die Nase dringt, nicht einer, der diesen Dreck
produziert. Und vielleicht wühlt Seymour Hersh diesen Dreck nicht deshalb auf,
weil ihm dies Spaß macht, sondern eben weil er ihn nicht erwartet hat, weil er
ihn verblüfft und wütend macht, weil er seine Enttäuschung immer neu verstärkt:
Und weil er hofft, seine Landsleute würden ihn, aus Gründen der Hygiene
schließlich beseitigen.
Dafür müssten doch wir Europäer Verständnis haben. Viele meiner Generation
haben in den USA Demokratie gelernt. (Ich übrigens in der Schweiz.) Was diese
Freunde nach Hause brachten, war das Bild eines Landes, dem nachzueifern sich
lohnte. Und sie halten bis heute an diesem Bild fest: Es gibt ein anderes
Amerika, ein anderes als das von Bush, Cheney, Rumsfeld, Wolfowitz.
Aber auch diese Deutschen fragen sich oft, genau wie Hersh, „wie acht
oder neun verrückte Neokonservative die Regierung übernehmen konnten. Sie haben
den Präsidenten überzeugt. Sie haben den Kongress niedergerungen, das Militär
kleingekriegt, das diesen Krieg (Irak) hasst, und sie haben die Presse
eingeschüchtert. Ich verstehe das alles nicht.“
Und das alles in dem Land, das seine Hoffnung war, die seiner Eltern,
die von Millionen Menschen, auch in Deutschland.
Niemand hat eine schlüssige Erklärung. Aber bei gründlichem Nachdenken
bin ich auf eine Fährte gestoßen, die wenigstens ein bisschen weiter führen
könnte. In der Geschichte werden manchmal Weichen gestellt. Sie bestehen
manchmal nur aus einer Entscheidung, ja einer Formulierung, deren Bedeutung
fast alle erst später erkennen. Wir haben uns vor zwei Wochen an den 11.
September 2001 erinnert. Genau heute vor zwei Wochen war der 12. September. An
diesem Tag im Jahre 2001 erklärte George W. Bush dem Terrorismus den Krieg. Ich
bin damals schon erschrocken und habe daran mitgewirkt, dass der deutsche
Kanzler nur ein einziges Mal auf diese Terminologie eingegangen ist, dann nie
wieder. Und der französische Präsident auch nicht. Tony Blair hat kurz vor
seinem Rücktritt offiziell erklären lassen, dass die britische Regierung
künftig nicht mehr vom „war on terrorism“ reden werde.
Was bedeutete es, wenn der Präsident der Hegemonialmacht einer
Verbrecherbande den Krieg erklärte? Erst einmal wertete er die Verbrecher auf.
Plötzlich waren sie für alle Welt Krieger; heute erregt ein Video von Bin Laden
mehr Aufmerksamkeit als die Reden von Bush. Dann hobelte er die Schwelle zum
wirklichen Krieg ab: Bis heute meinen viele Amerikaner, der Irakkrieg sei
einfach ein Teil des Kriegs gegen den Terror, daher haben viele gar nicht
gemerkt, welche völkerrechtliche Schwelle damit überschritten wurde. Wer die
Verbrecherjagd zum Krieg hochjubelt, muss dann auch den wirklichen Krieg als
Verbrecherjagd inszenieren mit Fahndungsliste, Kopfgeld, Gericht und Galgen. Wo
aber der Krieg als Verbrecherjagd, als Kampf der Guten gegen das Böse, geführt
wird, gilt nicht mehr das Kriegsrecht. So kommt es zu Guantánamo und Abu
Ghraib. Man muss den Verbrecherstaat eliminieren, Armee und Polizei auflösen,
tabula rasa machen und dann einen ganz neuen, demokratischen Staat aufbauen.
Und das kann nicht gelingen.
Wer mit Aufständischen, Partisanen zu tun hat, neigt dazu, zum Schutz
des eigenen Lebens ohne Rücksicht alle umzubringen, die dieses Leben bedrohen.
Das schafft neue Feinde. Es gibt nicht nur die Banalität des Bösen, es gibt
auch eine Logik des Bösen. Ich glaube nicht, dass George W. Bush sich am 12.
September 2001 hat ausrechnen können, wohin der „war on terrorism“ führen muss.
Wir wissen es ja heute noch nicht definitiv. Denn während für viele von Anfang
an klar war, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen ist, droht jetzt die
Niederlage. Bis zum Irakkrieg war der Selbstmordattentäter eine neue,
irritierende Erscheinung in einem Land, Palästina. Seit dem 11. September 2001
haben wir uns daran gewöhnt, dass er in Massen und überall tätig wird. Und wer
nicht mehr leben will, lässt sich auch durch nichts abschrecken. Sicher, Deutschland
wird nicht am Hindukusch verteidigt. Aber wenn Selbstmordattentate uns
veranlassen sollten, aus Afghanistan abzuziehen, wollen wir dann Deutschland
räumen, wenn sich Fanatiker hier in die Luft jagen? Verhindern können wir es
nicht.
Der politische Widerstand hätte also in den USA schon am 12. oder 13.
September 2001 beginnen müssen. Jemand hätte aufstehen müssen und
dazwischenrufen: Hast Du, George W. Bush, zu Ende gedacht, was es bedeutet,
Verbrechern, also kriminellen Privatleuten, den Krieg zu erklären? Hast Du
vergessen, dass Verbrechensbekämpfung nicht Sache des Pentagon ist? Es gehört
wenig Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie ein solcher Einwurf weggefegt
worden wäre. Nur ganz wenige hätten ihn verstanden, und der Patriotismus der
plötzlich Verwundeten, die sich für unverwundbar gehalten hatten, hätte den
Bedenkenträger als lächerliche Figur abgeschrieben. Nein, niemand konnte damals
gegen den „war on terrorism“ aufbegehren. Und dann war es zu spät.
Warum belästige ich Sie mit meiner Deutung des 12. September und der
letzten sechs Jahre? Einmal, weil ich eine nicht-moralische Antwort suche auf
die Frage von Seymour Hersh, warum acht oder neun „verrückte Neokonservative“
Amerika dahin bringen konnten, wo es heute ist. Gegen meinen Versuch einer
Antwort lässt sich vieles einwenden. Aber ich halte daran fest, dass politische
Fehlentscheidungen, die an sich nicht böse sind, Böses bewirken können, den
muck produzieren können, den aufzuwühlen Seymour Hersh für seine
Journalistenpflicht hält und der, wenn er nicht aufgewühlt wird, eine
Gesellschaft vergiften kann.
Um es im Anschluss an Friedrich Schiller zu sagen: Es ist eben nicht
nur „der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend Böses muss gebären“. Es kann
auch der Fluch einer törichten, unüberlegten, zweifelhaft motivierten, im
Augenblick höchst populären Tat sein.
In unserer deutschen Geschichte gab es 1932 einen Tag, den 30. Mai, an
dem ein seniler Reichspräsident den letzten demokratischen Kanzler Heinrich
Brüning mit den Worten entlassen hat: „Und nun, Herr Reichskanzler, wollen wir
mal sehen, wie mit Gottes Hilfe der Hase weiterläuft.“ Was hier ein seniler
General in einer Mischung aus bigottem Geschwätz und angelerntem Kasinodeutsch
von sich gab, hat eine Kette von Ereignissen ausgelöst, deren Ende wir alle
kennen. Aber war der alte Mann böse? Hatte er böse Absichten? In der
Weltgeschichte laufen eben keine harmlosen Hasen durch die Gegend, es gibt auch
Verkettungen, Abläufe, die an griechische Tragödien erinnern.
Nein, die Amerikaner sind nicht böse geworden, sie müssen nur einen Weg
zu Ende gehen, den Seymour Hersh – und auch wir Deutschen – ihnen gerne erspart
hätten. Das Amerika aber, das die Familie Hersh gesucht hat, ist nicht tot.
Investigativer Journalismus ist bei Regierungen nicht beliebt. Als in
den frühen 70er Jahren die Springerpresse immer wieder die Verhandlungen in
Moskau störte, war Willy Brandt wütend, aber hilflos. Er wusste nicht, welcher
Beamte da seine eigene Politik betrieb, eine Politik, die auch die des
Springerverlags war. Hier sollte Friedenspolitik erschwert oder verhindert
werden. Auch investigativer Journalismus kann sehr verschiedene Ziele haben.
In der Biographie unseres Preisträgers finden sich keine Attentate auf
den Frieden, wohl aber Angriffe auf den Krieg. Die Geschichte von My Lai hat
den Amerikanern gezeigt, dass Krieg nicht nur eine technische Seite hat, dass
es da um Menschen geht, und nicht nur um amerikanische. Das war nötig und
heilsam, und es hat das Morden verkürzt. Und auch im Irak haben die Recherchen
von Seymour Hersh die Amerikaner daran erinnert, dass in einem Krieg nicht nur
american lives gefährdet sind, verstümmelt und getötet werden können, sondern
auch fremde, feindliche Leben. Er hat daran erinnert, dass Menschenrechte, wie
sie die amerikanische Verfassung und die amerikanische Tradition kennen, allen
Menschen zustehen. Und das hat gewirkt. Investigativer Journalismus kann
durchaus seine eigenen Ziele, auch seine eigene Moral haben.
Seymour Hersh hat einen der großen Vorzüge der westlichen Demokratie,
der europäischen wie der amerikanischen, genutzt: die Pressefreiheit. Der
Philosoph Jürgen Habermas, einer der Herausgeber der „Blätter“, hat kürzlich am
Beispiel der von Verkauf bedrohten „Süddeutschen Zeitung“ dargelegt, dass diese
Pressefreiheit in Deutschland heute weniger vom Staat bedroht ist als von der
Art, wie Zeitungsverlage verscherbelt werden. Der wilde, wieder verwilderte
Kapitalismus unserer Tage, sieht auch in Zeitungsverlagen nur Objekte der
Rendite. Man kann solche Verlage mit demselben Motiv kaufen, mit dem man eine
Fabrik für Klopapier kauft: Man will die Rendite erhöhen und sie anschließend
teurer weiter verkaufen.
Was dies für Journalisten bedeutet, weiß Hans Leyendecker besser als
ich. Wahrscheinlich gibt ihm die „Süddeutsche“ noch Zeit genug für seine
Recherchen. Aber in anderen Blättern spürt der Leser, dass hier mit immer
weniger Journalisten immer weniger gründliche, zeitaufwendige, solide Arbeit
geleistet, dass immer mehr abgeschrieben wird, was dann zu jenem
Herdenjournalismus führt, den wir Sozialdemokraten gegenwärtig zu spüren
bekommen.
Es versteht sich also keineswegs von selbst, dass Menschen wie Seymour
Hersh wirklich tun können, was er getan hat und tut. Wir, gerade wir Deutschen
können uns daher nicht damit begnügen, ihn zu bewundern, ihn zu ehren. Wir
müssen dafür sorgen, dass er auch in unserem Land immer wieder Nachfolger
finden kann, heute, morgen und übermorgen.