Kriegstreiber
Iwan
Maiski war Botschafter der Sowjetunion in London von 1932 bis 1943. Als
Zeitzeuge und Beteiligter schildert er in „Wer half Hitler?“ eindrucksvoll,
dass nicht Deutschland auf den Beginn des Zweiten Weltkrieges hinarbeitete,
sondern insbesondere England und Frankreich. Nachfolgend präsentieren wir
Maiskis Zusammenfassung seiner ausführlichen Schilderung:
1. In den
Vorkriegsjahren, von denen in diesen Erinnerungen die Rede ist (1932-1939),
strebte die Sowjetunion aufrichtig und beharrlich bessere Beziehungen
zu England an. Dies resultierte einerseits aus ihrer allgemeinen Politik des
Friedens und der friedlichen Koexistenz mit Staaten, die ein anderes System als
die UdSSR haben, andererseits aus den konkreten politischen Absichten der Sowjetregierung,
zusammen mit England und Frankreich der Aggression der faschistischen Staaten
Deutschland und Italien in Europa eine feste Schranke entgegenzusetzen.
2. Leider
fanden jedoch die guten Absichten der Sowjetunion keinen zustimmenden
Widerhall in England. Es gab dort zwar viele
Elemente (Arbeiter, beträchtliche Teile der Intelligenz und die weitsichtigsten Vertreter der Bourgeoisie),
die eine Barriere der drei Staaten gegen die auch England und seine
Vormachtstellung in der Welt gefährdende faschistische Aggression begrüßt
hätten, aber die Staatsmacht lag im geschilderten Zeitabschnitt fest in den
Händen der reaktionärsten Teile der Bourgeoisie,
die von ihrem Haß gegen die UdSSR, das Land des Sozialismus, verblendet
waren. Das führende politische Zentrum dieser reaktionärsten Schichten war die
sogenannte Cliveden-Clique im Salon der Lady
Astor mit Neville Chamberlain, deren allgemein anerkannten Anführer. Aus
abgründiger Feindschaft gegen die
Sowjetunion war die Cliveden-Clique kategorisch gegen die Schaffung
einer Dreierbarriere zum Schutze der britischen
Positionen vor den faschistischen Aggressoren und verfiel auf die ihrer
Ansicht nach „glückliche Idee“, Deutschland und die UdSSR aufeinander zu hetzen, um dann, nachdem sich diese beiden
Mächte in einem grausamen Krieg verblutet haben, Europa einen für
Großbritannien günstigen Frieden zu diktieren. Diese bornierte und verbrecherische Auffassung gewann mit der Zeit
Boden und erreichte ihren Höhepunkt nach 1937, als Neville Chamberlain Premierminister und Lord Halifax
Außenminister wurden. Aus dieser Auffassung, von der sich die Cliveden-Clique
leiten ließ, resultierte die Politik der „Befriedung“ des Aggressors, in erster Linie Hitlers, und um dieser
Politik zum Erfolg zu verhelfen (der
letzten Endes doch nicht erzielt wurde), opferten England und Frankreich mit Unterstützung gewisser Kreise der USA 1938 und 1939 Österreich, Spanien und die
Tschechoslowakei.
3.
Trotz derart ungünstiger Bedingungen fuhr die Sowjetunion in ihren Bemühungen fort,
die Beziehungen mit England zu verbessern,
und 1939 strebte sie einen Dreier-Beistandspakt als Barriere gegen Deutschland
und Italien an, denn darin erblickte sie die beste Garantie gegen die
faschistische Aggression. Faktisch ging die Anregung zu einem solchen Pakt
gerade von der Sowjetunion aus. Die Cliveden-Clique, die solche Pläne schroff ablehnte, sah sich unter dem Druck breiter Kreise
der britischen Öffentlichkeit und einiger von Hitler und Mussolini
besonders bedrohter Staaten gezwungen, zu
manövrieren und sich von Zeit zu Zeit den Anschein zu geben, als ob sie bereit
sei, sich auf die Schaffung einer Dreierbarriere gegen die Aggressoren einzulassen.
Zu derartigen Manövern griff sie besonders oft 1939, nachdem Hitler das
Münchener Abkommen kurzerhand annulliert hatte. Darauf war auch zurückzuführen,
daß Polen, Rumänien und Griechenland im März und April 1939 von England (und
Frankreich) einseitige Garantien erhielten, und zwar für den Fall, daß sie von faschistischen Staaten
angegriffen würden. Darauf war
ferner zurückzuführen, daß sich die Chamberlain-Regierung (ebenso wie die Daladier-Regierung)
gezwungen sah, sich auf Dreierbesprechungen über den Abschluß eines
Beistandspaktes mit der UdSSR einzulassen. Aber da sie sich zu diesen Besprechungen gegen ihren Willen, notgedrungen
und zur Irreleitung der Volksmassen bereit erklärt hatten, lief ihre Teilnahme an diesen Verhandlungen praktisch auf deren
glatte Sabotage hinaus, was in
diesen Erinnerungen mit einer Vielzahl von Beispielen belegt wurde. Chamberlain (ebenso wie Daladier) war es nicht
darum zu tun, so rasch als möglich einen Dreierpakt zu schließen, er suchte
vielmehr nach Mitteln und Wegen, um einen
solchen Pakt zu vermeiden. Dieses Verhalten der britischen (und
französischen) Regierung führte unausbleiblich dazu, daß die
Dreierbesprechungen im August 1939 endgültig in eine Sackgasse gerieten. Es zeigte sich ganz klar, daß die Errichtung einer tatsächlich wirksamen Dreier-Barriere gegen
die faschistischen Aggressoren an der Sabotage durch Chamberlain und Daladier
(und nur daran!) gescheitert war.
4.
Da sich herausgestellt hatte, daß die beste Form zur Bekämpfung der Aggression
der faschistischen Staaten entgegen unserem Willen nicht verwirklicht werden
konnte, mußte die Sowjetunion andere Wege
ausfindig machen, um für ihre (wenn auch nur zeitweilige und nicht dauerhafte)
Sicherheit zu sorgen. Der große Lenin hatte in den ersten Monaten nach der
Oktoberrevolution ein geniales
Beispiel des Manövrierens in der internationalen Arena gegeben. Um dem
eben erst entstandenen Sowjetstaat eine Atempause zu verschaffen, die dieser
damals mehr als alles andere brauchte, bot Lenin zunächst allen kriegführenden
Staaten einen allgemeinen demokratischen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen an. Darin erblickte er das beste
Mittel, um dem Sowjetlande eine Atempause zu sichern, die sogar zu einer
langwährenden Friedensperiode werden konnte.
Als sich jedoch zeigte, daß der Appell der Sowjetregierung auf unfruchtbaren
Boden gefallen war, entschloß sich Lenin, einen Separatfrieden mit den
Mittelmächten zu schließen. Das war, wie
Lenin sich ausdrückte, ein für Sowjetrußland äußerst ungünstiger
„Schandfrieden“, doch sicherte er dem Lande immerhin eine kurze
Atempause und war, wie die späteren Ereignisse bewiesen, historisch völlig
gerechtfertigt. Dieses hervorragende
politische Beispiel hatte die Sowjetregierung bei ihrem Verhalten 1939 im
Sinne. Natürlich waren die Lage und die Umstände jetzt anders als vor 22
Jahren (vor allem war die Macht des
Sowjetlandes seither gewaltig gewachsen), trotzdem wies die internationale Situation 1939 viele
Elemente auf, die an die Lage von 1917-1918 anklangen. Unter allen
Umständen mußte das Zustandekommen einer kapitalistischen Einheitsfront gegen die UdSSR verhindert und der Überfall
der faschistischen Staaten auf das Sowjetland wenn nicht überhaupt
abgewendet, so doch zumindest nach Möglichkeit hinausgeschoben werden. Dieses Verhalten wurde von dem elementaren
Selbsterhaltungstrieb diktiert, der jedem Staat, unabhängig von seinem Charakter, eigen ist. Es wurde darüber hinaus aber
auch von Erwägungen allgemeinerer
Natur diktiert. Die Sowjetunion war ja in
jener Zeit nicht schlechthin eine der Großmächte unseres Planeten. Die
Sowjetunion stellte etwas weit Wichtigeres dar: Sie war damals als einziges sozialistisches Land der Welt die Heimat des Sozialismus und trug im Keime die
kommunistische Zukunft der ganzen Menschheit in sich. Auf den Schultern der sowjetischen Menschen, besonders auf den Schultern der
Sowjetregierung, lag zu jener Zeit die größte Verantwortung für die Wahrung der Integrität und Unabhängigkeit eines
Landes von so außerordentlicher historischer Bedeutung. Diese enorme
Verantwortung erforderte auch enorme Kühnheit, Geschmeidigkeit und Entschlossenheit.
5.
Mitte August 1939 kam die Sowjetregierung endgültig zu dem
Schluß, daß Chamberlains und Daladiers Politik die Unterzeichnung eines wirksamen
Dreierpaktes unmöglich machte, und beschloß,
den Kurs ihrer Politik zu ändern, d. h. die Besprechungen mit England
und Frankreich abzubrechen, da sie gegenstandslos geworden waren, und ein
Abkommen mit Deutschland zu schließen. Unsere Widersacher im Ausland setzten
daraufhin die verleumderische Legende in Umlauf, die Sowjetregierung habe im
Frühjahr und Sommer 1939 ein Doppelspiel betrieben, nämlich nach außen hin mit
England und Frankreich über einen
Dreier-Beistandspakt gegen die Aggressoren verhandelt, hinter ihrem
Rücken aber, insgeheim, mit Deutschland in Unterhandlungen über einen
Freundschaftspakt gestanden und letzten Endes den „westlichen Demokratien“ Deutschland vorgezogen. Um diese gehässigen
Verleumdungen zu belegen, gab 1948 das State Departement der USA sogar
jenen durch und durch tendenziösen Sammelband deutscher diplomatischer Schriftstücke
heraus, die den Amerikanern in Deutschland
in die Hände gefallen waren. Die oben vorgenommene Analyse der erwähnten
Dokumente aus der Zeit der Dreierbesprechungen
beweist jedoch unanfechtbar die absolute Verlogenheit derartiger Behauptungen.
Die UdSSR verhielt sich im Gegenteil bis Mitte August trotz der
empörenden Sabotage der Dreierbesprechungen durch die englische und die
französische Regierung ihren Partnern gegenüber völlig loyal und wies alle
recht zahlreichen Versuche Deutschlands, einen Keil zwischen die UdSSR und die
„westlichen Demokratien“ zu treiben, entschieden
zurück. Als sich aber die Sowjetregierung Mitte August 1939 überzeugen mußte, daß die Dreierbesprechungen
vollkommen aussichtslos waren,
entschloß sie sich zu einem politischen Kurswechsel, den sie dann auch verwirklichte. Die Sowjetregierung
machte von dem unveräußerlichen Recht jeder Regierung Gebrauch, ihre politische
Linie durch eine andere zu ersetzen, wenn
sie sich durch die Umstände dazu genötigt sieht. Im vorliegenden konkreten Fall war der Kurswechsel um so
berechtigter, als er der Sowjetregierung durch das sture und
verbrecherische Verhalten Chamberlains und Daladiers aufgezwungen wurde.
6. Das
sowjetisch-deutsche Abkommen vom 23. August 1939 war natürlich alles
andere als vollkommen (dafür hat die Sowjetregierang es auch nie gehalten), aber es verhinderte
jedenfalls die Bildung einer kapitalistischen Einheitsfront gegen die UdSSR, bewahrte 13 Millionen Westukrainer und
Westbelorussen vor dem furchtbaren
Los, von Hitler versklavt zu werden, ermöglichte die Wiedervereinigung aller Ukrainer und aller Belorussen
zu geeinten Nationen, die auf dem Wege der sozialistischen Entwicklung rasch fortschreiten, und verschob die sowjetischen
Grenzen um einige Hundert Kilometer nach Westen, was von großer strategischer Bedeutung war. Wie die darauffolgenden
Ereignisse zeigten, verzögerte das Abkommen den Überfall Deutschlands auf die UdSSR um fast zwei Jahre, es erleichterte
wesentlich den Schutz der Hauptzentren des Landes und den Übergang der
sowjetischen Streitkräfte zu siegreichen Gegenoffensiven, es ermöglichte die
Zerschlagung Hitlerdeutschlands und schuf die Voraussetzungen für eine
raschere Wiederherstellung der UdSSR in ihren heutigen Grenzen.
Als Schlußwort möchte ich hier Äußerungen zweier Persönlichkeiten
zitieren, die völlig entgegengesetzten Lagern angehören.
Am 27. November 1958 richtete N. S. Chrustschow an den
damaligen Präsidenten der USA, D. Eisenhower, eine ausführliche Note,
in der unter anderem auch die internationale Lage am Vorabend des zweiten Weltkriegs
berührt wurde.
„Bekanntlich
sind die USA, ebenso wie Großbritannien und Frankreich“, hieß es in dieser Note
des sowjetischen Regierungschefs, „durchaus nicht sofort zu dem Schluß
gekommen, daß eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion angebahnt werden müsse,
um der hitlerischen Aggression entgegenzutreten, obwohl die Sowjetregierung
sich immer wieder dazu bereit erklärt hatte. In den Hauptstädten der
westlichen Staaten hatten lange Zeit entgegengesetzte Bestrebungen die
Oberhand...
Erst
als das faschistische Deutschland die kurzsichtigen Spekulationen der Münchenianer
über den Haufen geworfen und sich gegen die Westmächte gewandt hatte, als die
Hitlerarmee sich nach dem Westen in Marsch setzte, wobei sie Dänemark,
Norwegen, Belgien und Holland zermalmte und Frankreich zu Fall brachte, blieb den Regierungen der USA und
Großbritanniens nichts anderes übrig, als zuzugeben, daß sie sich
verkalkuliert hatten, und gemeinsam mit
der Sowjetunion dem faschistischen
Deutschland, Italien und Japan die Stirn zu bieten. Bei einer
weitsichtigeren Politik der Westmächte hätte eine derartige Zusammenarbeit der
Sowjetunion, der USA, Großbritanniens und Frankreichs viel früher, gleich in
den ersten Jahren nach Hitlers Machtantritt in Deutschland angebahnt werden
können, und dann hätte es weder die
Okkupation Frankreichs, noch Dünkirchen oder Pearl Harbor gegeben*" (unterstrichen
von mir — I.M.). Dann wäre es möglich gewesen, Millionen
Menschenleben zu retten, die von den Völkern
der Sowjetunion, Polens, Jugoslawiens, Frankreichs, Englands, der
Tschechoslowakei, der USA, Griechenlands, Norwegens und anderer Länder geopfert
wurden, um die Aggressoren zu bändigen.
Winston
Churchill schreibt in seinen Kriegserinnerungen über die Dreierverhandlungen
von 1939:
„Nicht einmal im Lichte der geschichtlichen Perspektive
kann bezweifelt werden, daß England und Frankreich den russischen Vorschlag hätten annehmen
müssen... Chamberlain und das Außenministerium schienen jedoch von einer
rätselhaften Sphinx behext zu sein. Wenn
sich die Ereignisse mit einer solchen
Schnelligkeit und in einem derart gewaltigen Massenstrom abwickeln wie
zu jener Zeit, dann ist es am richtigsten, konsequent einen Schritt nach dem
andern zu tun. Ein Bündnis Englands,
Frankreichs und Rußlands hätte 1939 im Herzen Deutschlands tiefste Besorgnis hervorgerufen, und niemand
kann beweisen, daß man den
Krieg dann nicht hätte verhindern können" („Prawda“
vom 28. November 1958). „Den nächsten Schritt hätte man schon
mit einem Übergewicht der Kräfte auf seiten der Verbündeten tun können. Die Diplomatie hätte die
Initiative wieder an sich gerissen.
Hitler hätte es sich weder leisten können, in einen Zweifrontenkrieg
verstrickt zu werden, den er selber stets entschieden abgelehnt hatte, noch
hätte er einen Mißerfolg zulassen können.
Schade, daß er nicht in eine so schwierige Lage versetzt wurde, die ihn das Leben hätte kosten
können... Hätte beispielsweise
Mister Chamberlain nach Erhalt des russischen Vorschlags gesagt:
,Jawohl, vereinigen wir uns alle drei, um Hitler das Genick zu brechen’, oder mit anderen Worten dasselbe ausgedrückt,
so wäre das vom Parlament gebilligt worden, Stalin hätte das verstanden und die
Geschichte einen anderen Verlauf genommen... Statt dessen folgte (als
Antwort auf den russischen Vorschlag) ein
langes Schweigen, und inzwischen wurden verschiedene Halbheiten und
spitzfindige Kompromisse ausgetüftelt.“ (W. Churchill, Second World War, vol. I, pp. 325-328)
Trotz aller Unterschiede zwischen den Autoren der
angeführten
Zitate (es bedarf wohl keines Beweises, daß sie sehr groß sind), sind sich beide einig darüber, daß es
möglich gewesen wäre, den zweiten
Weltkrieg zu vermeiden, wenn die UdSSR, England, Frankreich und die USA (oder
zumindest die UdSSR, England und
Frankreich) der Aggression der faschistischen Mächte schnell, fest und entschlossen eine wirksame
Barriere entgegengesetzt hätten.
Wer
hat die Bildung einer solchen Barriere verhindert? Die Sowjetunion? Nein, die Sowjetunion trifft keine Schuld. Sie hat im
Gegenteil alles nur menschenmögliche getan, um so eine Barriere gegen die
Aggression zustande zu bringen. Daran lassen
die obigen Darlegungen nicht den geringsten Zweifel. Diese Dreierbarriere wurde
in Wirklichkeit von der Cliveden-Clique in England und von den „200
Familien“ in Frankreich verhindert. Wenn
man aber nach den Personen fragt, die Hitler geholfen, die diese reaktionären Kräfte am sichtbarsten
verkörpert und die ihnen genehme Politik am aktivsten betrieben haben, so sind
in erster Linie Neville Chamberlain und Daladier zu nennen. Die ganze
Größe ihrer geschichtlichen Verantwortung für die Entfesselung des zweiten Weltkriegs sowie für die unzähligen Opfer, Verluste
und Leiden, die er der Menschheit gebracht hat, ist kaum zu ermessen.