Kaum wirkliche Demokratie
Die antiautoritäre Revolte der
Studenten, Schüler und jungen Arbeiter heute ist von einer anderen Qualität als
das dumpfe Aufbegehren der ratlosen Jugend vor 1914. Es ist die Empörung gegen
ein sinnlos erscheinendes Leben und gegen die zynische Bevormundung durch
bornierte Autoritäten, die ihre selbstherrliche Regentschaft im Staatsapparat,
in den Universitäts‑ und Schulhierarchien und in der betrieblichen
Patronage ausüben. Zum erstenmal in der Geschichte Deutschlands lehnt sich die
Studentenschaft in großer Zahl gegen die autoritären Strukturen und
Verhältnisse der Gesellschaft auf. Heute nach den historischen Erfahrungen
zweier Weltkriege, nach dem historischen Bankrott des Liberalismus im
Faschismus, nach dem Versagen der sozialdemokratischen und kommunistischen
Arbeiterbewegungen ist die kritische Verarbeitung der Vergangenheit die
Voraussetzung für die Erkenntnis der Gegenwart. Beim Stand der Produktivkräfte,
also des gesellschaftlichen Reichtums, will die rebellische Jugend nicht nur
eine Autorität durch eine andere vertauschen, sondern irrationale Herrschaft
abschaffen.
Dieses antiautoritäre Denken
artikulierte sich seit dem Höhepunkt der zweiten Phase des Kalten Krieges, seit
dem 13. August 1961. Die kubanische Revolution, die ersten Eskalationen des amerikanischen
Krieges gegen das vietnamesische Volk bei der Unterstützung des Diem‑Regimes,
die Klassenkämpfe im Kongo, die Revolution in Algerien boten dem Denken andere
Orientierungspunkte. Selbst die monopolisierte Presse berichtete von
Massenbewegungen und Volksaufständen gegen halbfeudale korrupte Regime, die
schlecht von kommunistischen Agenten inszeniert sein konnten, weshalb es der
Jugend vollkommen unverständlich wurde, warum amerikanische Truppen im Namen
der Freiheit ausgerechnet selbstherrliche Feudalisten, Spekulanten und Ganoven
gegen die Völker unterstützten. Auch die eigene Gesellschaft unterlag einer
differenzierten Betrachtungsweise. Die Konsolidierung der Wirtschaft in der DDR,
die zugleich erlaubte, dort die stalinistischen Methoden der Staats‑ und
Parteiführung abzubauen, veränderte die antikommunistische Ideologie in der
Bundesrepublik; das Freund‑Feind‑ Bild der fünfziger Jahre konnte
nicht mehr ohne weiteres mobilisiert werden, um den Abbau der Demokratie in der
Bundesrepublik zu vertuschen; die Gefahr des aggressiven Feindes ließ sich
nicht mehr beliebig beschwören, um Notstandsmaßnahmen durchzusetzen. Der
bedingungslose Glaube an die <freiheitliche Ordnung> war erschüttert. Bis
zum 13. August 1961 war es der deutschen Bourgeoisie erspart geblieben, ihren
materiellen und ideologischen Anteil am Faschismus untersucht zu erhalten. Das
faschistische Denken ging in die antikommunistische Ideologie des Kalten
Krieges bruchlos über. Dem «das Leben vertilgenden» Kommunismus widersetzten sich
die Ideale der freien Welt, braun war gleich rot, Kommunismus und Faschismus
erschienen als siamesische Zwillinge. Dadurch konnte der Zusammenhang des
deutschen <Liberalismus> mit der faschistischen Gesellschaft vertuscht
werden. Der ökonomischen Notsituation und den daraus entstehenden staatlichen
Zwangsmaßnahmen im Osten wurden die Industriekapazität und die
Wirtschaftsführung des Westens als Hauptargumente des Freien Westens
entgegengestellt. Freie Wirtschaft gegen Plansystem, freie Reisemöglichkeiten gegen
geschlossene Grenzen, freie Wahlen gegen Einheitsliste, Zitrusfrüchte gegen LPG‑Grünkohl.
Die Freiheit im Westen wurde auf die Reklame des Tourismus, auf das Werbeplakat
eines Ramschladens reduziert, das die freie Auswahl unter einem genormten
Sortiment anpreist. Der Begriff der Freiheit wurde von der politischen in die
Waren‑Sphäre verdrängt. Das Gegenbild zur östlichen Gesellschaft
abzugeben, war der einzige Titel, auf den der Freie Westen provozierte.
Politische Kommentare und Reklame fielen zusammen: den Brüdern und Schwestern
hinter dem Eisernen Vorhang sollte Coca‑Cola ‑ eisgekühlt ‑
zum Inbegriff politischer Freiheit werden. Tatsächlich ist auch die westliche
Demokratie in keiner gesellschaftlichen Sphäre wirklich verankert, weder auf
betrieblicher Ebene als erweiterte Mitbestimmung der Arbeiter, noch im
Parlament und in den Parteien.
Quelle: "Von der antiautoritären Bewegung zur sozialistischen
Opposition" von Bernd Rabehl in: Bergmann, Dutschke, Lefèvre, Rabehl
(Hg.): "Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition", Reinbek
bei Hamburg 1968, S. 154 f