Humanistischer Protest
Die Entmenschlichung des
Gesellschafts-Charakters und die Ausbreitung der Religion des
Industriezeitalters bzw. der kybernetischen Religion haben eine
Protestbewegung, einen neuen Humanismus, auf den Plan gerufen, dessen Wurzeln
auf den christlichen und philosophischen Humanismus vom späten Mittelalter bis
zur Aufklärung zurückreichen. Dieser Protest fand seinen Ausdruck sowohl in
theistisch‑christlichen als auch in pantheistischen oder nichttheistischen
philosophischen Formulierungen. Er kam von zwei verschiedenen Seiten: von
politisch konservativen Romantikern und von marxistischen und anderen
Sozialisten (und einigen Anarchisten). Rechte und Linke waren sich in ihrer
Kritik am industriellen System und dem Schaden, den es dem Menschen zufügt,
einig. Katholische Denker wie Franz von Baader und konservative Politiker wie
Benjamin Disraeli formulierten das Problem oft mit den gleichen Worten wie
Marx.
Die beiden Lager unterscheiden
sich hinsichtlich der Art und Weise, in der verhindert werden sollte, daß
menschliche Wesen in Dinge verwandelt werden. Die Romantiker auf der Rechten
meinten, der einzige Ausweg bestehe darin, den ungehemmten »Fortschritt« des
industriellen Systems aufzuhalten und zu früheren Formen der gesellschaftlichen
Ordnung, wenn auch mit bestimmten Modifikationen, zurückzukehren.
Der Protest von links kann als
radikaler Humanismus bezeichnet
werden, obwohl er manchmal in theistischen, manchmal in nichttheistischen
Begriffen geäußert wurde. Die Sozialisten meinten, daß die ökonomische
Entwicklung nicht aufzuhalten sei, daß man nicht zu vergangenen Formen
gesellschaftlicher Ordnung zurückkehren könne und daß die Rettung nur darin
bestehen könne, vorwärtszugehen und eine neue Gesellschaft aufzubauen, in der
die Menschen von Entfremdung, von Versklavung durch die Maschine und dem
Schicksal der Enthumanisierung befreit sind. Der Sozialismus stellte eine
Synthese der religiösen Tradition des Mittelalters und der sich nach der Renaissance
entwickelnden wissenschaftlichen Denkweise und Entschlossenheit zum politischen
Handeln dar. Er war, wie der Buddhismus, eine »religiöse« Massenbewegung, die,
obwohl sie sich säkularer und atheistischer Begriffe bediente, den Menschen von
Selbstsucht und Habgier befreien wollte.
Ich muß hier wenigstens einen
kurzen Kommentar zu meiner Interpretation des Marxschen Denkens einfügen ‑
angesichts dessen völliger Perversion durch den Sowjetkommunismus und den
westlichen Reformsozialismus zu einem Materialismus, dessen Ziel »Reichtum für
alle« ist. Wie Hermann Cohen, Ernst Bloch und eine Reihe anderer Theoretiker in
den letzten Jahrzehnten festgestellt haben, war der Sozialismus das säkulare
Äquivalent des prophetischen Messianismus. Man kann diese These vielleicht am
besten durch ein Zitat aus dem >Mischne Tora< des Maimonides erhärten, wo
das Messianische Zeitalter wie folgt beschrieben wird:
» Die Weisen und die Propheten
begehrten nicht die Zeit des Gesalbten, damit sie aller Welt sich bemächtigen,
nicht, damit sie den Helden obwalten, nicht, daß die Völker sie erheben, nicht
um essen, trinken und sich freuen zu können, sondern damit sie frei werden für
die Tora und ihre Weisheit und keiner sie treibt und stört, damit sie gewürdigt
werden des Lebens der kommenden Welt, wie wir es erklärt haben in den
>Satzungen der Umkehr<.
In jener Zeit wird es keinen
Hunger geben, keinen Krieg, keine Eifersucht und keinen Streit, denn irdische
Güter werden reichlich strömen und alle Wonnen werden wie Staub wimmeln und die
Sorge der ganzen Welt wird einzig sein, Gott zu erkennen. Und darum werden die
aus Israel große Weise sein, verborgene Dinge erkennend, und werden, der
Menschenkraft gemäß, ihren Schöpfer erkennen, wie gesagt ist (Jes 11,9):
>Denn die Erde ist voll meiner Erkenntnis, wie Wasser das Meerbett
bedecken< « (Moses Maimonides, 1966, 179f.).
Dieser Schilderung zufolge
besteht das Ziel der Geschichte darin, es dem Menschen zu ermöglichen, sich
ganz dem Studium der Weisheit und der Erkenntnis Gottes hinzugeben, nicht der
Macht oder dem Luxus. Im Messianischen Zeitalter herrscht auf der ganzen Welt
Friede und materieller Überfluß; es gibt keinen Neid. Diese Beschreibung hat
große Ähnlichkeit mit der Marxschen Auffassung vom Ziel der Geschichte, die er
gegen Ende des III. Bandes des >Kapitals< ausdrückte:
»Das Reich der Freiheit
beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere
Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach
jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit
der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu
erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in
allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit
seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die
Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese
befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der
vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren
Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche
Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu
werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den, ihrer menschlichen
Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies
immer ein Reich der Notwendigkeit. jenseits desselben beginnt die menschliche
Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit,
das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann.
Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung« (K. Marx, 1971a, Band
III, S. 828).
Quelle: "Haben oder Sein" von Erich Fromm, 6. Aufl. München
1980, S. 147 - 150