Adickes Herrenhausrede 1906

Die brillianteste Fundamentalkritik an den deutschen Richtern, die seit nunmehr fast 100 Jahren so aktuell ist wie zu Kaisers Zeiten!

 

Bei allen Erörterungen über eine Große Justizreform wird immer wieder auf die Rede Bezug genommen, die der Frankfurter Oberbürgermeister Dr. Adickes am 30. 3. 1906 vor dem Preußischen Herrenhaus bei den Etatberatungen gehalten hat. Auf Wunsch von Lesern bringen wir nachfolgend die Rede nach den Stenographischen Berichten über die Verhandlungen des Preußischen Herrenhauses mit geringfügigen Auslassungen.

Wir haben gestern und auch früher schon eindringende Debatten gehört über die große Finanzreform, die im Reiche schwebt. Ich glaube, es würde dem Herrenhause, in dem eine solche Fülle staatsmännischer Erfahrung vorhanden ist, wohl anstehen, auch einmal die großen Reformen zu besprechen, die im Reiche auf dem Gebiete der Justizpflege geplant sind. Es ist allerdings schwer, im Rahmen einer kurzen Etatsrede die Fülle der Gesichtspunkte auch nur annähernd anzugeben, die sich dabei aufdrängen. Aber so wie die Dinge bei Reformgesetzen auf dem Gebiete der Justizpflege sich abzuspielen pflegen, ist die Gefahr eine außerordentlich große, daß die juristisch-technischen Gesichtspunkte in den Vordergrund gedrängt werden, und ich glaube, es kann nicht früh genug eingesetzt werden, um die wirtschaftlichen, sozialen und allgemein staatlich interessanten Gesichtspunkte hervorzukehren, welche die eigentliche Grundlage sein müssen für dasjenige, was die juristische Technik nachher gestalten soll. Wenn ich nun heute die lange Reihe meiner ungehaltenen Etatsreden durch eine gehaltene Rede zu ersetzen versuche, so ist für mich der Umstand dabei maßgebend, daß ich bei den Besprechungen, die ich mit hervorragenden Richtern und Anwälten über dies Gebiet gehabt habe, den starken Eindruck bekommen habe, daß es eine Reihe Dinge gibt, die einmal gesagt sein müssen. Es ist das nicht gerade ein sehr angenehmes und dankbares Amt; ich glaube aber doch, daß es notwendig ist, nach dieser Richtung hin einmal den Anfang zu machen.

Ich beginne gleich mit einer Bemerkung, die einigermaßen im Gegensatz steht zu dem, was im andern Hause und in der Presse über diesen Gegenstand geäußert worden ist. Ich meine den Umstand, daß im Etat für 1906 wiederum 215 neue Richter- und Staatsanwaltsstellen und 310 Bureaubeamte vorgesehen sind. Es ist dies eine Vermehrung, die beinahe so groß ist wie im Vorjahre. Damals wurden 250 Richter und Staatsanwälte verlangt. Nun ist bisher fast

durchweg der Justiz- und der Finanzminister gelobt worden, daß sie eine große Menge neuer richterlicher, Kräfte in den Etat eingestellt haben. Ich meinerseits muß sagen, daß ich durch diese Einstellung sehr schmerzlich bewegt bin, nicht in dem Sinne, daß ich leugnen wollte, daß diese Einstellung auf Grund der augenblicklich bestehenden Einrichtungen notwendig wäre; nein, meine Herren, die vielen Hülfsrichter sind allerdings unerträglich, und ich bestreite nicht, daß auf Grund der gegenwärtigen Institution diese Stellen notwendig sind; aber ich unterscheide mich nun dadurch, daß ich mich hierbei nicht bescheiden kann, vielmehr zu der weiteren Frage komme: sind diese Einrichtungen gut und richtig, welche in jedem Jahre diese ungeheure Richtervermehrung erfordern ? Ich glaube

diese Frage verneinen zu müssen. Ich werde mir erlauben, die Gründe hierfür darzulegen.

Gestatten Sie mir zunächst, Ihnen die Gesamtziffern des Justizetats oder vielmehr die Gesamtzahl der Richter im Deutschen Reiche einmal vor Augen zu führen, wie sie in der Justizstatistik für den 1. Januar 1906 verzeichnet ist. Sie sehen da, daß an den beiden höchsten Gerichtshöfen, am Reichsgericht und an dem Bayerischen Oberlandesgericht, zusammen 113 Richter vorhanden sind, an den Oberlandesgerichten - immer mit Einschluß der Präsidenten - 651, an den Landgerichten 2899, zusammen 3663. Dazu kommt die Zahl der Amtsrichter, die 5153 beträgt, sodaß die gesamte Richterzahl, wenn ich die Amtsrichter zunächst einmal miteinrechne, ein Heer von 8816 ausmacht und mit den Vermehrungen inzwischen rund 9000. Meine Herren, ich glaube, diese Armee hat in der Welt nicht ihresgleichen. Wenn Sie die Richter der höheren Gerichte, abgesehen von den Amtsgerichten, nehmen, kommen wir auf 3663, und wenn ich einmal versuche, zusammenzufassen, wieviel rechtsprechende Kräfte wir eigentlich verbrauchen, abgesehen also von dem Hypothekenwesen, dem Vormundschaftswesen und was sonst die Amtsrichter zu tun haben, so rechne ich einmal ein Drittel der Amtsrichter, dann würden das 1718 sein, und wir kämen dann auf 5381 eigentlich rechtsprechende Richter - ich runde einmal ab und sage 5000 für alle meine späteren Ausführungen.

Meine Herren, diese Summe von 5000 erhält aber erst dann ihre richtige Beleuchtung, wenn Sie sich die Zunahme von 1882 an vergegenwärtigen - also bald nach dem Inkrafttreten der Justizgesetze - bis 1905. Diese Zunahme hat nicht weniger als 1648 betragen, nämlich 127 an den Oberlandesgerichten, 721 an den Landgerichten und 900 bei den Amtsgerichten. Meine Herren, man muß in der Tat sagen: der Aufwand von Kraft ist außerordentlich. Nun frage ich mich: sind denn die Verhältnisse dementsprechend ? Da halte ich es für zweckmäßig, mich nicht auf meine Erfahrungen zu berufen, ich ziehe es vielmehr vor, eine Äußerung Ihnen vorzutragen, welche einer unserer angesehensten Richter, der jetzige Oberlandesgerichtspräsident von Breslau, damals vortragender Rat im Justizministerium, Herr Vierhaus, gemacht hat. Er sagt in einem kleinen Aufsatze, der in einer Festschrift zu Ehren unseres verehrten Mitgliedes Exzellenz Koch erschienen ist: Leider lehrt eine objektive Betrachtung, ein Blick in die Tagespresse und in die stenographischen Berichte über parlamentarische Verhandlungen, daß das Vertrauen in die Rechtslage, der Stolz auf die Gerichte in starkem Niedergange begriffen sind. Mag die Tadelsucht des Zeitalters auch an solchen Äußerungen der Unzufriedenheit ihr gutes Teil haben, objektiv ist die Tatsache nicht zu leugnen.

Meine Herren, ich wüßte kaum ein Wort, das so erschütternd und niederdrückend ist wie dieses Wort. Ich meine, kein Wort könnte wie dieses zwingen zu einer Selbstprüfung auf diesem Gebiete; denn wenn es wahr wäre, daß die Justiz im Niedergange wäre, meine Herren, dann wäre ja an einem der Fundamente unseres Staatswesens gerüttelt. Nun, meine Herren, mögen eine Menge Gründe vorhanden sein, welche Unzufriedenheit mit den Zuständen der Justiz hervorrufen, der Mangel an Tradition, unter dem wir auf diesem Gebiete leiden, die Tadelsucht einer oft zügellosen Presse und eine Reihe anderer Momente. Aber um die Frage kommen wir doch bei dieser Sachlage nicht herum, ob denn nicht auch an der Organisation ein gutes Teil Schuld liegt, und ich meine, schon die Zahlen, die ich Ihnen vorgeführt habe, weisen darauf hin, daß allerdings in der Organisation selbst ein schwerer Fehler steckt. Meine Herren, wo Sie eine solche Zahl von Richtern verlangen - rund 5000 -, da ist es selbstverständlich, daß die Quantität die Qualität herabdrückt. Es ist nicht möglich, eine solche Armee von 5000 auf die Beine zu stellen, aus lauter hervorragenden Richtern. Da muß die Zahl der Mittelmäßigkeiten eine große sein! Dabei liegt es mir ganz außerordentlich fern, gegen unsern deutschen Richterstand und den ein- zelnen Richter auch nur den mindesten Vorwurf zu erbeben. Was der deutsche Beamte hat leisten können an Pflichttreue, an Aufwendung der Arbeitskraft bis zum letzten, das hat nach meiner Überzeugung der deutsche Richter geleistet. Er hat eine Fülle neuer Gesetze in sich aufgenommen, hat sie, als die Wissenschaft noch nicht gesprochen hatte, in die Praxis übersetzt, unter den schwierigsten äußeren Verhältnissen. Ich glaube also, unser deutscher Richter verdient das höchste Lob für das, was er in den Grenzen der Organisation geleistet hat und hat leisten können.

Aber das, was hier in Frage steht, ist etwas ganz anderes. Denn, meine Herren, bei dieser großen Zahl drängt sich natürlich zunächst die Frage auf: ist denn in der Tat jeder Richter von diesen 5000 nötig ? Auch hier will ich zunächst nicht mein eigenes Urteil anführen, sondern der schon genannte Herr Vierhaus sagt in demselben Aufsätze:

Eine wahre Verschwendung ist das Übermaß im Verbrauch teurer Richterkräfte, wie sie in der Ausdehnung des Kollegialprozesses und der überstarken Besetzung der Gerichte in der Rechtsmittelinstanz vorhanden sind.

Er weist darauf hin, daß die Besetzung der Strafkammern mit fünf Richtern absolut keine Garantie geschaffen hat, welche diesen Gerichten im Volke das Vertrauen habe zuführen können. Im Gegenteil, gerade gegen diese Gerichte wendet sich der Sturm, der die Einführung der Berufung verlangt. Er führt weiter aus, daß es eine ganz unerwiesene Behauptung wäre, wenn immer verlangt würde, daß die höheren Gerichte mit mehr Richtern besetzt werden sollen als die unteren; er hält es ebenso für eine unerwiesene Behauptung, daß immer die größere Zahl auch die größere Garantie gibt. Meine Herren, wenn dies von autoritativer Seite gesagt wird, wenn diese Zweifel gegen unsere jetzige Organisation laut werden, dann, meine ich, liegt es doch in der Tat nahe, sich einmal eingehender zu fragen: Ist es denn nötig, diese außerordentliche Menge Richter zu beschäftigen? Und wenn die Sache so liegt, kann auch wohl die finanzielle Frage dabei in Betracht gezogen werden. Nach meiner Meinung kann es natürlich keine Frage sein, daß für eine gute Justiz keine Summe zu groß sein, kein Geld zu viel verlangt werden kann. Wenn wir aber gehört haben, daß die Anstrengungen, die mit Aufwand großer Geldmittel gemacht worden sind, nicht zum Ziel geführt haben, dann allerdings ist es zweckmäßig, sich die Summen vor Augen zu halten, die zur Zeit von der Justizpflege verlangt werden. Ich habe vor mir den Bericht über die Justizverwaltung in Preußen von 1887-1901. Darin ist der Zuschuß zu den Justizkosten jährlich auf 76 Millionen rund berechnet; in einer späteren Denkschrift von 1902 aus Anlaß des Gerichtskostengesetzes ist die Summe etwas niedriger, auf fast 70 Millionen berechnet worden; wir können also mit einer Summe von etwa 70 Millionen rechnen. Nun, wenn Sie den gegenwärtigen Etat ansehen, dann sehen Sie, daß allein die Richtervermehrung etwa eine Million neu erfordert und daß im ganzen der Zuschuß sich erhöht hat um rund 3.851.000 Mark. Vergegenwärtigen Sie sich diese Summe, die in zehn Jahren neue 30 Millionen beträgt und dabei trotzdem keine vom allgemeinen Vertrauen getragene Rechtspflege! Da muß ich fragen, wo will das hinaus ? Und ich meine, wir können gar nicht umhin die Verhältnisse anderer Länder uns auch vor Augen zu führen. Nichts schärft ja den Blick so sehr als die Betrachtung andersgearteter Zustände und Einrichtungen. Bisher waren wir allerdings gewohnt, nur nach Westen hinzublicken, nach den Institutionen, die das napoleonische Frankreich geschaffen hat, und ich gebe ohne weiteres zu, die schematische Durchsichtigkeit, die buereaukratische Gleichmäßigkeit dieser von napoleonischer Organisationskraft geschaffenen Einrichtungen, welche bis jetzt sich über ein Jahrhundert in Frankreich bewährt haben, legten es uns nahe, nach Frankreich zu sehen. Aber ich meine, es wäre jetzt endlich an der Zeit, auch einmal nach unseren angelsächsischen Vettern zu sehen, welche eine Justizentwicklung haben, die seit Jahrhunderten keine Unterbrechung erfahren hat, die nie den Einbruch eines fremden Rechts erlitten haben, die nie eine Beamtenhierarchie im kontinentalen Sinne gehabt haben, und bei denen immer eine kleine, aber im höchsten Ansehen stehende Schar von Richtern die Rechtspflege im höchsten und würdigsten Sinne ausgeübt hat.

Wenn wir nach England hinübersehen, finden wir dort Ziffern, die uns zunächst vollständig märchenhaft vorkommen, welche wir uns zunächst nicht erklären können. Wir müssen deshalb, da die Verhältnisse schwer vergleichbar sind, in die Tiefe der Institutionen hineindringen und versuchen, die zugrunde liegenden Rechtsgedanken herauszuschälen, eine Arbeit, die an und für sich schon außerordentlich nützlich ist und den Blick für unsere Einrichtungen ganz außerordentlich schärft. Wenn ich die englischen Ziffern nehme, so finde ich eine Reihe erstaunlicher Dinge. Zunächst finde ich, daß trotz der Bevölkerungsvermehrung in England, trotz der ungeheuren Entwicklung von Handel, Verkehr, Gewerbe, trotz des weltumspannenden Charakters der englischen industriellen und kommerziellen Tätigkeit die Richter seit 1846 nur in äußerst geringem Maße vermehrt worden sind. Die Grafschaftsgerichte, welche 1846 geschaffen worden sind, um dem Volke eine billige Zivilrechtspflege für kleinere Streitsachen - jetzt bis zu 2000 Mark - zu verschaffen, sind seit 1846 nicht um einen einzigen Richter vermehrt worden. Die neuen strafrechtlichen Einrichtungen sind 1835 geschaffen. Als damals die neue Kommunalverfassung eingeführt wurde, weil nämlich die englische Justiz und Verwaltung aufs engste zusammenhängen, wurde zugleich die Rechtspflege auf strafrechtlichem Gebiete organisiert; während früher die Friedensrichter auch in den Städten eine große Stellung gehabt hatten, versagten sie, als der Klassenstreit in die industriellen Städte und Gegenden hineinkam, und man führte damals, 1835, Berufsrichter in den großen Städten für die Strafsachen ein. Und die Zahl der Berufsrichter, die 1835 geschaffen worden sind, versorgt im wesentlichen auch jetzt noch die Justiz in den großen Städten. Sie werden mir zugeben, es ist das der Beweis einer ungeheuren Elastizität, welche das möglich erscheinen läßt.

Und nun, meine Herren, die absoluten Zahlen! Es ist ja schwer, mit einfachen Ziffern zu vergleichen, weil in England, wie Ihnen bekannt ist, die Friedensrichter, die berühmten "great unpaid", immer noch eine ungeheure Rolle spielen und eine große Menge der Strafrechtsjustiz in erster und zweiter Instanz besorgen. Aber, wenn ich annehme, daß das Berufsrichtertum, das in London und den großen Städten eingeführt ist, über ganz England ginge, und wenn ich annehme, daß England soviel Bevölkerung hätte wie Deutschland, dann würden wir im ganzen auf 500 Richter stoßen gegen 5000 bei uns. Ich sagte mir: das mag an den ganz besonderen englischen Verhältnissen liegen -, und da habe ich meine Blicke nach Schottland hingelenkt, wo eine ganz andere Verfassung und eine ganz andere Rechtsentwicklung besteht. Während in England beispielsweise der Staatsanwalt unbekannt ist, ist in Schottland das Institut der Staatsanwaltschaft wie auf dem Kontinent auch vorhanden. Auch sonst sind in Schottland durch seine Verbindung nach Frankreich und Holland eine Reihe kontinentaler Rechtseinflüsse geltend gewesen, die das schottische Rechtswesen dem kontinentalen ähnlicher machen als das englische. Es schien daher zweckmäßig, den Blick nach Schottland hinzuwenden, und obwohl in Schottland die Einrichtung nicht in dem Maße wie in England ausgebildet ist, daß den Richtern Hilfskräfte zur Seite stehen, habe ich durch eine ähnliche Berechnung ermittelt, daß die Zahl der deutschen Richter siebeneinhalbmal so groß ist wie die der schottischen. Aber nicht nur das, diese englisch-schottischen Gedanken haben den amerikanischen Kontinent erobert. Obwohl in Nordamerika die besonderen amerikanischen Verhältnisse geltend sind wie beispielsweise die Richterwahl in den Staaten - nicht in den Bundesgerichten, da werden die Richter auch ernannt -, besteht auch dort derselbe Zustand. Man kann also sagen: die ganze angelsächsische Weit wird von demselben Grundsätze beherrscht: wenige Richter, aber in hoher Stellung.

Meine Herren, ich will Ihnen nicht die Zahlen aller einzelnen Gerichte vorführen, ich will nur wenige Daten geben, um Ihnen einen Anhalt nach dieser Richtung zu schaffen. Die Zahl der Zivilrichter, und zwar der Grafschaftsrichter beträgt 60 in ganz England, 1846 und jetzt. Deren Kompetenz betrug ursprünglich 300 Mark, jetzt ist sie bis auf 2000 Mark erhöht worden. Sie haben die ganze Konkurspflege, sie haben eine Reihe von Erbschaftsregulierungen und ähnlichen Sachen, außerdem eine gewisse Zahl von Sachen unabhängig von deren Geldwert. Also jetzt ist ihre Zuständigkeit bis auf 2000 Mark erhöht worden - das geht weit über die Zuständigkeit unserer Amtsgerichte hinaus -, und ihre Zahl beträgt insgesamt 60! Dann, meine Herren, betrachten Sie den High Court of Judicature, den hohen Gerichtshof, wo zugleich die erste und zweite Instanz vertreten sind. Dieser Gerichtshof besteht aus 30 Männern. Das sind für uns so überwältigende Zahlen, daß ich sie Ihnen vorführen muß. Zum Schluß nur noch eine Ziffer. Die gesamte Zivilrechtspflege in allen Instanzen, der Vorsitz in den Schwurgerichten, die Revision in Strafsachen und die ganze Verwaltungsgerichtspflege wird in England von 100 Richtern besorgt!

Meine Herren, wir fragen uns: wie ist denn das möglich ? Ich glaube in der Tat, wenn wir versuchen, die zugrunde liegenden Rechtsgedanken herauszuschälen, so werden wir da auf Gedanken stoßen, die auch für Deutschland von großem Interesse sind. Die erste Frage ist natürlich die, ob denn die Zahl der Strafsachen bei uns eine so viel größere ist als in England oder Schottland. Da wird man sehen, daß die Zahl der in Angriff genommenen Sachen sich nicht so ungeheuer unterscheidet, ferner daß die Zahl der Zivilsachen die streitig geworden sind, keineswegs so außerordentlich weit auseinandergeht, daß sich daraus die Ziffern auch nur annähernd erklären könnten. Man hört dann fortgesetzt, wenn man von England spricht: ja die hohen Kosten, da kann kein Mensch Gerechtigkeit bekommen. Das ist nur mit großen Einschränkungen richtig. Die Kosten der Grafschaftsgerichte sind sehr niedrig, und Gneist bezeichnet sie deshalb als eine der populärsten Institutionen. Dann kommt weiter bei den Strafgerichten diese Seite der Frage überhaupt nicht in Betracht. Ferner sind in Schottland und auch in Amerika die Kosten keineswegs so hoch, wie sie in der Tat bei dem High Court of Judicature sind. In England sind die Gebühren, welche sich die Advokaten bezahlen lassen, unter Umständen sehr hoch. Es sind das keine festen, sondern verabredete Gebühren, die Herren lassen sich oft sehr hohe Sätze bezahlen. Aber wenn ich auch annehme, daß diese hohen Gebühren bei diesem Gericht einen Einfluß haben, so kann das allein die Sache nicht erklären, weil wie gesagt bei den Grafschaftsgerichten und auch bei den Strafsachen die Höhe der Gebühren nicht mitspricht. Nun drängt sich ein anderes Moment sofort auf, worauf auch Gneist die Aufmerksamkeit gelenkt hat, das ist die Erledigung einer großen Reihe von Geschäften durch juristisch ausgebildete Gehilfen, die Masters, Registrars usw. Es ist sehr interessant, zu sehen, was diese Gehilfen leisten, wenn man dem gegenüber die Verhandlungen im Reichstage vergleicht, wo die Reichsregierung im Jahre 1888 eine Art Vortermin vorgeschlagen hatte, um die Versäumnisurteile und eine Reihe leicht zu erledigender Sachen schneller bewältigen zu können. Damals gelang es in Deutschland nicht, eine Verständigung über diese verhältnismäßigen Bagatellgeschichten zu erzielen, und zwar gelang es nicht, weil die verschiedensten juristisch-technischen Bedenken sich entgegenstellten. Nun werden die ganzen Versäumnistermine in England von diesen Gehilfen erledigt, und man hat genügende Organisationskraft bewiesen, um die hierzu notwendigen Einrichtungen zu schaffen. Diese Gehilfen erledigen auch noch eine ganze Reihe anderer Sachen, und mit großer Ängstlichkeit wird konsequent darauf gesehen, daß für die Rechtsprechung der Richter alles so vorbereitet wird, daß diese eben nur das Urteil zu sprechen haben. Die Anwälte und andere Beamte bereiten alles für die Verhandlung vor, sodaß sich nachher allein dem mündlichen Verfahren konzentriert, wo dann der Richterspruch erfolgt.

Was zunächst mir und auch Ihnen wunderlich erscheinen wird, ist das: kein englischer Richter setzt die feder an, um nachher ein Urteil in Tatbestand und Entscheidungsgründen, wie man es bei uns kennt, zu schreiben. Die Hälfte derjenigen Tätigkeit, die unsere Richter auszuführen haben, beruht in der Absetzung solcher Urteile. Sie können also ermessen, um wieviel die Arbeit der englischen Richter verringert ist. Daraus können wir ein Doppeltes lernen: einmal, daß wir in der Schriftlichkeit der alten Zeit noch so vollkommen stecken, daß wir noch gar nicht wissen, wo wir schriftlich und wo wir mündlich verfahren sollen. Daher kommt es, daß die Übertragung hannoverscher Institutionen, die mir als altem Hannoveraner ja gewiß am Herzen liegen, auf das Reich so wenig glücklich ausgefallen ist, daß in einem großen Teile der großstädtischen Gerichte diese Mündlichkeit gar nicht mehr besteht. Wir verfahren dort, wo der englische Richter schriftlich verfährt, mündlich und umgekehrt.

Das Zweite, das wir lernen können, ist die Wertschätzung der richterlichen Arbeitskraft in England. Wir haben in Deutschland genug Richter, die auch in schwierigsten Dingen die Urteile mündlich verkünden können ... Wir fördern diese Entwicklung nicht, sondern wir drücken sie nieder durch die Vorschrift, daß die Richter dasjenige niederschreiben müssen, was in England durch die Anwälte, zum Teil durch Stenographen oder in anderer Weise erledigt wird. Meine Herren, das ist ein Beispiel, wie man in England Richterkraft schont und spart. Es gibt aber noch andere. Schon der von mir zitierte Herr Vierhaus führt aus, welche Verschwendung der Arbeitskraft in der Art der Besetzung der Instanzen liegt. In der ersten Instanz gibt es in England und in der ganzen angelsächsischen Weit überhaupt nur Einzelrichter Wir glauben hier wunder welche Rechtsgarantien gefunden zu haben, indem wir eine Kammer mit drei Männern besetzen. Das sind abergläubische Erinnerungen aus früherer Zeit. Die Kollegialität ist eine wunderschöne Sache, wenn sich hochstehende gleichgestellte Leute schwierige Dinge zusammen überlegen; aber wenn Sie ganz ungleiche Männer zusammenspannen, dann hat die Kollegialität, die gemeinsame Beratung keinen Wert. Wenn sie einen Landgerichtsdirektor - ich führe einmal ein Beispiel an - mit einem alten Rat und einem ganz jungen Herrn zusammensetzen, so ist das ein so ungleiches Gespann, daß Sie nicht sagen können, daß drei gleichwertige Meinungen zum Ausdruck kommen. In England, Schottland und Amerika, da sagt man sich, wir haben nicht genug Leute, um die erste Instanz mit hochgestellten gleichwertigen Männern besetzen zu können, und deshalb müssen wir in der ersten Instanz Einzelrichter haben. Ich komme nachher noch darauf, wie unsere Kollegialgerichte sich bewähren, und da ist es allerdings von höchstem Interesse, daß die größte Zahl der Berufungen erhoben wird gegen Zivilkammern... Ich frage: genügt diese Ziffer nicht, um zu zeigen, daß man auf diese Weise, durch einfaches Addieren von drei Männern keine autoritatäre Instanz bekommt ? Und damit komme ich auf den eigentlichen Hauptpunkt der ganzen Sache.

In England liegt nämlich der Schwerpunkt in der ersten Instanz während wir glauben, die Güte der ersten Instanz uns dadurch sichern zu sollen, daß fortgesetzt die Sachen in die, obere Instanz hineingedrängt werden und dort die Berichtigungen erfolgen. So kann es dann kommen, daß Strafsachen durch so und soviele Instanzen hindurchgehen, daß 2, 3, 4 mehr oder minder verschiedene Urteile in derselben Sache ergehen. Ich frage Sie, soll denn derjenige, der bestraft wird, wenn verschiedene Entscheidungen ergangen sind, glauben, daß eine starke Autorität ihn gestraft hat ? Er wird sich sagen, ein Urteil hat mich freigesprochen, das ist offenbar das richtige Urteil gewesen. Also da ist jede Häufung der Instanzen für die Urteile der Justiz das gefährlichste, und man sollte alle Mittel anwenden, die erste Instanz stark autoritativ und kräftig zu machen.

Ich will Ihnen jetzt die Ziffern über die englischen Berufungen aufführen, um Ihnen zu zeigen, was man in England mit den Mitteln, die man dort anwendet, erreicht hat 75 000 dieser Art Urteile in Deutschland, und in England 312, auf die gleiche Bevölkerung zurückgeführt etwa 549 und in Schottland ungefähr gleich 546. Ich glaube, man braucht nichts weiter zu sagen als diesen Gegensatz von 75 000 zu 546!

In Zivilsachen ist der Unterschied auch ein riesiger, wenn auch nicht ein so überwältigender, weil die großen Zivilsachen, die hochwertigen Sachen, auch in England durch mehrere Instanzen hindurchgehen unter Aufwendung ganz außerordentlich großer Geldmittel. Aber die Verschlechterung, die schiefe Ebene, auf der wir uns hier befinden, und die ich in bezug auf die landgerichtlichen Urteile schon nachgewiesen habe, tritt auch bei den amtsgerichtlichen Urteilen hervor. Die Berufungen in Zivilsachen gegen amtsrichterliche Urteile betrugen im Jahre 1881 12 Prozent, im Jahre 1903 betrugen sie 24,8, also beinahe 25 Prozent! Meine Herren, ich finde, wenn Tatsachen aufrütteln können, dann sind es diese Tatsachen, die nachweisen, wie die Autorität unsrer untersten Instanz abnimmt.

Jetzt versteht man auch zum Teil, woher der ungeheure Richterkonsum kommt. Ich habe einmal zusammengestellt, wieviel Richter bei uns in der Berufungs- und Revisionsinstanz tätig sind. Ich habe dabei ungefähr angenommen, daß ein Viertel der Landrichter in der Berufungsinstanz tätig sind, und da bin ich auf 1731 gekommen; wenn ich dagegen die englische Ziffer nehme, so sind es 26. Meine Herren, 1731 gegen 26!

Ich habe Ihnen eine Reihe von Erklärungsversuchen zu geben versucht. Männer, die mehr eindringen können, die mehr Zeit haben, auf den englischen Prozeß einzugehen, würden wahrscheinlich Ihnen noch mehr Auskunft darüber geben können. Ich hoffe, daß in Deutschland infolge dieser Anregung Untersuchungen angestellt werden, welche diese Dinge tiefer und besser ergründen, als ich es hier gelegentlich unter Benutzung meiner spärlichen Mußestunden habe fertig bringen können.

Meine Herren, wir kommen dann weiter noch zu. einigen Gründen, die gesagt werden müssen. Zunächst gebe ich ohne weiteres zu, daß eine gewisse Rolle bei der ganzen Sache spielt die - ich kann wohl sagen - Jahrhunderte lange Erziehung des deutschen Volkes zum Anrufen der höheren Instanzen. Die Staatsgewalt hat es sich in sinnreichster Weise angelegen sein lassen, in der Bevölkerung die Überzeugung zu erwecken, daß je mehr man nach oben geht, man umsomehr Gerechtigkeit bekommt. Das war in der Zeit des absoluten Staates natürlich, wo alles auf den Fürsten sich konzentrierte; aber das ist geblieben und das wirkt nach, und deshalb, glaube ich wohl, ist die Prozeßsucht nirgends so ausgebildet wie bei uns. Die billigen Gerichtskosten bei uns kommen ja hinzu, und die werden eben deshalb so leidenschaftlich verlangt, weil eben dieses alte Gefühl, daß man höher hinaufgehen muß, um sein Recht zu bekommen, im Volke so verbreitet ist.

Endlich noch zwei Punkte von großer Bedeutung. Das eine ist die Art, wie der englische Prozeß eingerichtet ist. Wenn wir den englischen Strafprozeß uns ansehen, so werden wir erstaunt sein über die ungeheure Einfachheit, mit der die Sache sich entwickelt ... Die größten Rechtsgarantien nach allen Richtungen, die Möglichkeit der Berufung gegen alle möglichen Verfügungen, das ist alles sinnreich ausgedacht; trotzdem ist unser Prozeß im höchsten Grade unpopulär, und der englische, der wesentlich nur die Garantie in der Person des Richters hat, ist sehr populär. Deshalb, meine ich, ist das Studium des englischen Verfahrens, mag es uns zunächst eigentümlich und seltsam berühren, in höchstem Maße beachtens- und empfehlenswert.

Nun komme ich zum letzten: das ist die Qualität der Richter. Ich glaube, in diesem Hohen Hause brauche ich nicht anzuführen, daß schließlich die hervorragenden Persönlichkeiten das Entscheidende für die Gestaltung der Dinge des Lebens sind, daß es nicht angeht, den Versuch zu machen, durch Summierung von Mittelmäßigkeiten einen hervorragenden Mann zu bekommen. Das englische Prinzip, die erfahrensten und hervorragendsten Leute an die Spitze zu stellen und sie von allem unnützen Schreibwerk und sonstigen unnützen Arbeiten, die nicht mit der höchsten Aufgabe der Rechtsprechung zusammenhängen, fernzuhalten, ist das Prinzip, das uns allein Hilfe bringen kann. Ich habe wiederholt von den Grafschaftsrichtern gesprochen, die die Ziviljustiz handhaben. Das sind Herren, die, wenn sie gewählt werden, eine mehrjährige Anwaltspraxis hinter sich haben; dann aber werden sie berufen, nur diese Zivilsachen zu erledigen, und bekommen dadurch eine ganz außerordentliche Erfahrung darin. Ich habe einmal berechnet, wieviel Urteile durchschnittlich auf einen der Grafschaftsrichter entfallen; das ist die Zahl von 740 im Jahre. Diese Richter sitzen aber auch fast jeden Tag der Woche und sprechen Recht. Sie verhandeln an einem Tage unter Umständen auch nur einen Fall, wenn er intrikat ist. Während bei uns die Rechtsprechung manchmal hastig und überstürzt ist wegen der Überlastung der Gerichte, haben die wenigen englischen Richter Zeit, langsam und ruhig schwierige Sachen zu behandeln. Indem sie 740 Urteile sprechen, nicht aber schreiben, haben sie eine solche Übung, daß ihre Urteile Autorität haben und die Berufung außerordentlich selten ist. Ich bemerke, daß wegen der Tatfrage die Berufung sehr eingeschränkt ist. Es kann eine Jury verlangt werden, die dann endgültig über Tatfragen entscheidet; wenn sie nicht verlangt wird, entscheidet der Richter endgültig. Aber in Rechtsfragen ist Rekurs zulässig, sodaß, wenn die Parteien wollten, sie auch in England eine ganze Zahl von Berufungen erheben könnten. Diese Grafschaftsrichter haben von vornherein ein Gehalt von 30 000 Mark, ein feststehendes Gehalt. Das ist ein Gehalt, wofür man auch in England Kräfte von Erfahrung und Bedeutung gewinnen kann. Das ist zum Beispiel das Gehalt, das die Masters an dem High Court of Judicature erhalten; der Polizeipräsident von London erhält 40 000 Mark, was ich zum Vergleich bemerke. Daß die hohen Richter, die Richter des High Court of Judicature, Ministergehälter beziehen, 100 000 Mark, ist ja bekannt. Dabei ist aber eins von außerordentlicher Bedeutung: die Richter der Appellationsinstanz, die Richter des Court of Appeal, bekommen dasselbe Gehalt wie die Richter der ersten Instanz; es soll und kann nicht das Gefühl, der Gedanke aufkommen, daß die Richter der höheren Instanz, der Appellationsinstanz, anders geartete, höher gestellte Leute sind als die Richter der ersten Instanz. Das ist eine Tatsache von allerhöchster Wichtigkeit, und das erste, was wir tun müssen, wenn wir die erste Instanz festigen und kräftigen wollen.

Aber noch eins: Bei uns ist die wissenschaftliche Betätigung des Richters in so hohem Ansehen, und mit gutem Grunde, daß darüber, nach meiner Überzeugung mit sehr schlechtem Grunde, die eigentliche richterliche Tätigkeit zu kurz gekommen ist. Früher galt als höchstes Amt das Recht über Leib und Leben, und auch jetzt noch präsidieren in England Leute in Ministerstellungen bei den Schwurgerichten. Und wenn Sie fragen, weshalb unsere Schwurgerichtsvorsitzenden nicht dieselbe Autorität besitzen, dann gehen Sie einmal hierauf zurück. Das ist der ursächliche Grund der hohen Autorität der englischen Präsidenten. Diese hohen englischen Richter reisen im Lande herum. Wohin sie kommen, sind sie die höchste Person, die es in der Stadt gibt. Alles sieht zu ihnen herauf, und dann besteigen sie mit ihrem Hermelin ihren richterlichen Thron und sprechen Recht, dann hat jedes Wort, das sie äußern, Autorität. Das sind nicht die 100 000 Mark, die sie beziehen und die sich mit unseren Verhältnissen ja nicht vergleichen lassen, sondern es ist die sorgfältig ausgewählte Stellung! Und nun komme ich auf den Ausgangspunkt zurück, unsere 5000 Richter, und frage Sie: ob Sie es nicht jetzt ganz natürlich finden, daß unsere 5000 Richter ganz anders stehen als die 500 englischen ?

Meine Herren, ich kann Ihnen mit einem Worte den Gegensatz in voller Schärfe klar machen. Aus alter und absoluter Zeit her haben wir noch die Institution, daß das Richtertum bei uns eine Beamtenkarriere ist, darin liegt das proton pseudos unserer Einrichtungen, und deshalb kommen wir nicht weiter nach meiner Überzeugung, bis diese Einrichtung von Grund aus beseitigt wird. Vergegenwärtigen Sie sich doch einmal, welche Folgen diese Beamtenkarriere für den richterlichen Beruf hat! Ich schicke dabei voraus, daß es mir natürlich absolut fern liegt, gegen den einzelnen Richter irgendwelche Klagen zu erheben. Es liegt mir durchaus fern, zu bezweifeln, daß wir nicht eine Fülle ganz hervorragender Männer unter unseren Richtern haben; im Gegenteil, ich bin davon auf das festeste überzeugt und ich möchte das auf das schärfste betonen. Aber wenn wir 5000 Richter haben müssen, dann ist es nicht anders möglich, als daß wir eine große Menge Mittelmaß haben müssen. Es geht daraus hervor, wenn wir die Examina durchsehen, und man würde es leicht erkennen, wenn der Herr Minister einen Blick in die Liste derjenigen Herren gestatten wollte, die zu Präsidenten und Direktoren befähigt sind. Das Gros ist das nicht, sondern nur eine kleine Zahl. Das wissen die sämtlichen Richter, die Beteiligten wissen es aber auch, der Anwalt und die Parteien. Und das kann die Autorität der ersten Instanz nicht festigen.

Nun weiter: der junge Richter, der auf die Richterbank gesetzt wird und ein sehr gutes Examen gemacht hat, weiß vom Leben gar nichts, steht ihm vollkommen fremd gegenüber. Er hat die Kenntnis der Gesetze und der Lehrbücher, aber die schwierige Kunst der Anwendung der Gesetze auf das Leben kann er noch nicht haben, die soll er auf dem Richterstuhle lernen. Das ist die Verkehrtheit, die wir haben, daß wir ihn angesichts des Publikums auf den Richterstuhl setzen und ihn sich dort ausbilden lassen. Da können wir uns nicht wundern, daß der Rechtseingesessene sagt: das ist ein Lehrling, kein Meister, vor dem wir uns zu beugen haben. Es ist klar, daß hervorragend begabte Leute das überwinden, schnell Lebenskunde sich aneignen und Einblick in alle menschlichen Dinge erlangen. Dem Gros bleibt das aber versagt, und wenn Sie überall ausgesprochen finden, daß unsere Richter zum großen Teil an Lebensfremdheit leiden, dann liegt hier das Geheimnis. Das ganze Mittelmaß ist nicht in der Lage, die umfassende Lebenskunde sich zu erwerben, die für den richterlichen Beruf absolut notwendig ist,

Daher fasse ich zusammen: solange wir eine richterliche Karriere haben, wo man seine Examina macht, von unten als Richter anfängt, Recht zu sprechen, und sich hinauf dient und Recht spricht, solange können wir kein autoritatives Richterpersonal haben. Und nun bewegen wir uns in einem circulus vitiosus, der, glaube ich, durch die früher gegebenen Ziffern schon nachgewiesen ist, nämlich: durch die wachsende Zahl der Berufungen wächst die Zahl der erforderlichen höheren Richter; je mehr höhere Richter, um so weniger tüchtige Kräfte bleiben für die unteren Instanzen; junge tüchtige Landrichter werden in die Oberlandesgerichte, Assessoren in die Landgerichte hineinberufen, die Autorität der Landgerichte nimmt ab, die Berufungen nehmen zu; dadurch werden wieder mehr Richter oben nötig, und so geht der circulus vitiosus weiter und weiter. Und weil das Ganze eine große Beamtenhierarchie ist, kommen unsere bedeutendsten Richter am wenigsten zum Rechtsprechen. Denn welche Stellung haben unsere hohen Richter, unsere Oberlandesgerichtspräsidenten ? Sie sollen zugleich hervorragende Richter und hervorragende Verwaltungsbeamte sein. Ich glaube, wir können froh sein, wenn wir Männer haben, die entweder sehr hervorragende Richter oder sehr hervorragende Verwaltungsbeamte sind. Männer zu finden, die beides sind, ist sehr schwer, und wenn ich recht unterrichtet bin, hat man viele Fälle dafür, daß die eine oder die andere Seite schwächer entwickelt ist. Aber unter allen Umständen ist der Oberlandesgerichtspräsident, von dem ich annehme, daß er der hervorragendste, tüchtigste Richter des Bezirkes ist, derjenige, der am wenigsten Recht sprechen kann, weil er durch Verwaltungsgeschäfte ganz außerordentlich stark überlastet ist. Also die hierarchische Einrichtung verhindert die ersten Kräfte, die wir haben, für die Rechtsprechung so, wie es sein sollte, auszunützen.

Ich glaube, Ihnen schon Andeutungen darüber gemacht zu haben, daß aus der Entwicklung des absoluten Staates und des Beamtenstaats die jetzigen Einrichtungen durchaus erklärlich sind. Es fragt sich nur, ob es so bleiben muß. Ich glaube, ich knüpfe am besten an ein Wort an, das der Staatssekretär des Reichsjustizamts im Jahre 1898 ausgesprochen hat. Er hatte damals unter schwerem Kampfe eine Vorlage zu vertreten, durch welche das Reichsgericht arbeitsfähig gehalten werden sollte; denn, meine Herren, es war der für unser deutsches organisatorisches Talent und unsere organisatorische Kraft äußerst beschämende Umstand eingetreten, daß das Reichsgericht, welches wir 1879 eingesetzt hatten, 1897 schon am Ende seiner Arbeitsfähigkeit war. Unsere Organisation war so mangelhaft, man hatte so wenig vorausgesehen, wie die Sache sich entwickeln würde, daß im Jahre 1898 das Reichsgericht erklärte: so kann das nicht weitergehen. Da sollte nun die Revisionssumme erhöht werden, und zu diesem Zwecke wies der Staatssekretär in sehr nachdrücklicher Weise auf die eigentlichen Aufgaben hin, die das Reichsgericht zu erfüllen hätte. Er sagte unter anderm: "Auf dem Gebiete der Zivilrechtspflege haben wir bis zum heutigen Tage eigentlich noch ein kleinstaatliches Leben geführt." Das bisherige Recht der partikulären Gemeinschaften - sagte der Staatssekretär weiter - sei ohne wirkliche nationale Bedeutung gewesen. "Jetzt aber gilt es, von nationalen Gesichtspunkten auszugehen und neue Bahnen einzuschlagen'' Meine Herren, dies Wort gilt nicht allein von der Zivilrechtspflege, es gilt von unserer ganzen Justiz. Sie wissen, daß man im wesentlichen hannoversche Einrichtungen auf das Reich übertragen hat. Das waren Einrichtungen, die der kleine Staat Hannover, im wesentlichen auf landwirtschaftlicher Grundlage beruhend, 1850 unter ganz anderen Verhältnissen sich gegeben hatte. Diese hat man in einer Zeit, wo die ganzen Verhältnisse sich schon geändert hatten, auf das Reich übertragen. Deshalb kam es, daß sich in so kurzer Zeit herausstellte, daß diese Übertragung durchaus unzulänglich gewesen war.

Es gilt jetzt, der ungeheuren wirtschaftlichen Entwicklung, die das Deutsche Reich genommen hat, zu folgen, und dieser entsprechend unsere ganze Rechtspflege neu zu organisieren. Nach meiner Meinung gilt es, vollständig neue Ideale aufzustellen und der Justiztechnik die Aufgabe zu stellen, die Änderungen vorzuschlagen, die zur Verwirklichung dieser Ideale die dienlichsten sein könnten. Es scheint mir ohne weiteres selbstverständlich, daß mit der bisherigen Auffassung einer gleichmäßigen Beamtenkarriere für Amtsrichter und die Richter der höheren Gerichte gebrochen werden muß. Der Amtsrichter, der zu zwei Dritteln oder drei Vierteln Verwaltungsgeschäfte zu führen hat oder halbrichterliche Geschäfte, Hypothekengeschäfte, Vormundschaftsgeschäfte, freiwillige Gerichtsbarkeit, und nur zu einem kleinen Teil richterliche, rechtsprechende Tätigkeit ausübt, muß grundsätzlich ganz anders behandelt werden als die Organe, die eine lediglich rechtsprechende Tätigkeit auszuüben haben. Es ergibt sich daher von selbst folgende Scheidung: die Beamtenkarriere mit Direktoren- und Präsidentenstellen lediglich für die amtsrichterliche Tätigkeit, dagegen Ausschluß jeder Beamtenkarriere für die ihrer Zahl nach mit allen Mitteln zu verringernden Stellen der Richter an den Land- und Oberlandesgerichten. In diese Stellen sind ausschließlich fertige und erfahrene Männer zu berufen und gleich mit hohen Gehältern auszustatten.

Wenn man dies so hört, dann wird man geneigt sein, den Kopf zu schütteln und zu sagen: das scheint ja ein Revolutionär zu sein, der diese Gedanken entwickelt. Aber gerade in diesem Hohen Hause hat man, glaube ich, ein feines Verständnis dafür, was richtiger Konservativismus ist, und wenn ich Ihnen nachgewiesen habe, daß die jetzigen Zustände unhaltbar sind, dann ist es nach meiner Meinung richtiger Konservativismus, neue Grundlagen zu suchen, die haltbarer sind als die bisherigen. Und unter Ihnen sind Männer genug, die über großen Besitz und über große Unternehmungen verfügen und sie zu organisieren wissen. Sie wissen, daß alles darauf ankommt, daß man auf die entscheidenden Stellen die richtigen Leute beruft. Nur dann kann es gelingen, eine zugleich autoritative und mitten im Leben stehende Justiz zu schaffen.

Das ist das eminenteste konservative Interesse, was es geben kann. Die Richter selbst klagen jetzt, sie sind überlastet; sie können sich nicht mehr so fortbilden, wie es erwünscht wäre, sie gehen im Schreibwerk unter. Sie haben das Gefühl, wie man gesagt hat, einer Subalternisierung des Richterstandes. Wir wollen doch alles tun, um dieses Gefühl zu beseitigen und um unsere Richter in die Höhe zu bringen, um auch hier das schöne Wort des Herrn Ministers des Innern anzuwenden von dem Hinaufziehen in die Höhe, und sie nicht hinabziehen zu lassen in bureaukratisches Schreibwerk und Kleinigkeitskrämereien.

Ich habe in den Verhandlungen des Reichsgerichts gelesen, daß der Abgeordnete Spahn erklärt hat: wir sieben Reichsrichter sitzen eine bis anderthalb Stunden über die minimalsten Geschichten, daß es fast zum Lachen ist. So ist es in den Protokollen des Reichsgerichts zu lesen. Bisher haben wir so viel deutsche Lammsgeduld gehabt, daß diese Zustände sich haben halten lassen - erst 1905 sind einige Vereinfachungen und Erleichterungen eingeführt. Aber ein Organisator, der solchen Dingen dauernd ein Ende macht, wird noch vergebens gesucht. Und doch können wir auch für diese Dinge im praktischen England ohne weiteres das befreiende Wort finden. Man hat dort für die Gerichte, die aus einer größeren Zahl von Mitgliedern zusammengesetzt sind, insbesondere auch für den Court of Appeal eine Mindestzahl eingeführt, und zwar in allen Beschwerdesachen eine Mindestzahl von zwei, sonst von drei. Man würde die ganzen Schwierigkeiten sofort erledigt haben, wenn man nach dem englischen Grundsatze, der schon aus alter Zeit, von dem sogenannten friedensrichterlichen "Quorum" herstammt, den Grundsatz aufgestellt hätte: zwei Richter genügen für kleinere Sachen, drei für größere. Bei uns ist das alles immer viel zu schematisch; es sind einmal sieben Richter, also müssen in jeder Sache diese sieben Richter sitzen. Das geht durch alle unsere Einrichtungen: dieser Schematismus des Bureaukratismus, der eben in England fehlt. Mit diesen Dingen müssen wir nach meiner Meinung durchaus brechen.

Vor allen Dingen aber, meine Herren, was wir zunächst tun müssen - ich hatte natürlich nicht die Absicht, Ihnen hier einen rein theoretischen Vortrag zu halten, ich glaube, Sie würden mir das auch nicht verzeihen, wenn ich diesen Anspruch an Sie machte, sondern ich komme darauf hinaus, womit ich angefangen habe: wie können wir der Richtervermehrung Einhalt tun? Die Mittel, die dazu diensam sind, sind ja aus dem Laufe meiner Ausführungen wohl schon hervorgegangen. Ich unterlasse es, sie einzeln aufzuführen. Ich führe nur an, daß, wenn an die Stelle unserer Zivilkammern, deren ungenügende Leistungsfähigkeit ziffernmäßig nachgewiesen ist, Einzelrichter gesetzt werden, wenn dann in den Oberlandesgerichten statt der 5 Männer 3 Männer sitzen, und wenn das Reichsgericht entsprechend niedrige Zahlen erhält, daß wir dann eine Richterersparnis bekommen, die ganz außerordentlich groß ist. Es genügt mir also einstweilen, hierauf hinzuweisen. Und dann auf einen zweiten Punkt. Die Erhöhung der richterlichen Tätigkeit dadurch, dabei Hilfsbeamte gegeben werden mit Richterqualität Diese Sache, immer angewandt in Verbindung mit gewissen gar nicht sehr großen Reformen des Verfahrens, wird nach meiner Meinung es ohne weiteres möglich erscheinen lassen, daß eine große Ersparnis an Richtern eintritt.

Selbstverständlich kann ich mich nicht dem Gedanken hingeben, daß das auf einmal im ganzen Reiche geschieht; selbstverständlich muß dem Vorhandenen alle Rücksicht getragen werden. Jedenfalls müssen wir einmal anfangen. Ich gebe zu, die Justizverwaltung ist in einer sehr schwierigen Lage, in sehr viel schwierigerer Lage als die innere Verwaltung. Die innere Verwaltung macht die Gesetze und führt sie zugleich aus; sie kennt jede Schwäche unserer Organisation und weiß, wo der Hebel anzusetzen ist. Im Reiche dagegen ist die Kompetenz getrennt. Wir haben ein Reichsjustizamt, was nicht unmittelbar von den Leiden der Gerichte hört, sondern erst durch Vermittlung der einzelstaatlichen Justizverwaltungen. Das gibt eine sehr viel schwierigere Lage. Daraus erkläre ich mir, warum gerade im Justizwesen die kleinen Reformen so viel schwieriger sind als in der Verwaltung. Ich habe nie verstehen können, warum die Amtsgerichte in den großen Städten von 300 000 Einwohnern ebenso organisiert sind wie in den kleinen Orten, wo nur ein Richter sitzt. Der schöne ideale, althannoversche Gedanke, daß neben dem Amtmann ein Amtsrichter sitzt, der das Vertrauen der Bevölkerung und des Amtsbezirkes genießt und die rechtlichen Sachen der Bevölkerung besorgt und in kleinen Dingen die Urteile spricht, dies Ideal ist vollständig unerfüllbar geworden in Städten mit irgendwelcher größeren Einwohnerzahl ...

Wir haben also zur Erledigung von Verwaltungssachen in den Amtsgerichten jetzt eine Selbstherrlichkeit von lauter nebeneinanderstehenden Beamten bekommen, die unmöglich zu einer guten Geschäftsbehandlung führen kann. Das, worauf ich hinaus möchte, ist, daß man die Justiz in den großen Städten anders organisieren soll als auf dem flachen Lande ...

Ich verstehe nicht, warum es nicht möglich sein soll, den Prozeßrichtern bei den großen Amtsgerichten eine weitergehende Kompetenzen geben als auf dem Lande. Wenn man das aber tut, dann entlastet man die höheren Gerichte gleich in einem ungemein bedeutenden Umfange, und dies ist nach meiner Meinung das, worauf es ankommt ...

Ich kann mir nicht denken, daß das, was der Herr Staatssekretär des Reichsjustizamts gesagt hat, daß wir nämlich auf die Reform der Zivilprozeßordnung noch zehn Jahre lang warten sollten, ein Hindernis bilden kann. Allerdings soll jetzt zunächst die Strafprozeßordnung reformiert werden, dann auch das amtsgerichtliche Verfahren, und deshalb wird es wohl zutreffen, daß die große Reform an der Zivilprozeßordnung vor 10 Jahren nicht herankommen wird. Ich kann mir aber nicht denken, daß dies Wort die Bedeutung haben soll, daß inzwischen auf dem zivilprozessualen Gebiete gar nichts geschehen soll; ich verstehe es nur dahin, daß die große Organisation, eine ganz neue Zivilprozeßordnung, ein ganz neues Gerichtsverfassungsgesetz, zunächst nicht möglich ist.

Ich möchte den Herrn Justizminister bitten, diese Dinge einer eingehenden Prüfung zu unterziehen und vor allen Dingen zu untersuchen, ob nicht in dem englisch-schottischen, angelsächsischen Verfahren eine Reihe von Rechtsgedanken vorhanden sind, die sich auf unsere Verhältnisse übertragen lassen und deren Übertragung dahin führt, daß unsere Justiz wieder in höherem Maße vom allgemeinen Vertrauen getragen wird und zugleich eine autoritäre Stellung wieder gewinnt, daß vor allen Dingen die erste Instanz gestärkt wird und es nicht üblich bleibt, durch eine Reihe verschiedenartiger Rechtssprüche hindurch erst sich sein Recht zu suchen. Ich glaube, die Bezugnahme auf England und Schottland ist gerade auch aus dem Grunde so besonders zutreffend, weil die englischen und schottischen Verhältnisse, wie ich bereits bemerkte, durchaus verschiedene sind, im Endresultat aber auf dasselbe hinauskommen, also den Schluß zulassen, daß diese Grundlagen, die beiden gemeinsam sind, doch wohl die richtigen sein müssen, wenn sie sich durchgesetzt haben trotz im übrigen sehr wesentlich verschiedener Einrichtungen.

Meine Herren, den Wunsch und die Bitte, daß diese angelsächsischen Verhältnisse mehr als bisher studiert werden, möchte ich an den Herrn Minister auch noch aus einem andern Grunde richten, nämlich mit besonderer Rücksicht auf die Verhandlungen, die jetzt schon wegen des Strafprozesses so weit vorgeschritten sind. Sie wissen, daß die Protokolle über die Verhandlungen der Strafprozeßkommission schon erschienen sind. Ich glaube aber, wenn man sie liest, kann man wohl sagen, daß man die höchste Bewunderung dafür haben muß, wie alle Fragen der juristischen Technik von den Herren eindringend erörtert sind. Ich muß für meine Person aber sagen, daß ich doch in erheblichem Umfange schmerzlich vermißt habe ein Eingehen auf die allgemein grundlegenden Gesichtspunkte jeder wahren Justizreform. Die Frage der Gewinnung der hervorragendsten Richter ist überhaupt kaum gestreift worden. Deshalb, glaube ich, wird es notwendig sein, die Materialien für die Strafprozesse zu vervollständigen, wenn wir die Hoffnung haben wollen, daß etwas länger Dauerndes geschaffen wird als die Justizgesetze, die 1877 geschaffen worden sind. Damals ist eine enorme Arbeit getan, die jeder dankbar anerkennen wird. Die Schranken der damaligen Arbeit lagen aber in den Verhältnissen. Denn überall hatte man mit den bestehenden Justizeinrichtungen als den Grundlagen zu rechnen und diese waren durchaus mit kleinstaatlich, verbunden mit Erinnerungen aus der absoluten zeit. Jetzt haben wir die Entwicklung von 25 Jahren hinter uns, das Deutsche Reich hat einen riesigen Aufschwung genommen; jetzt drängen neue Ideale von selbst sich hervor, und da, glaube ich, müßte es die erste und vornehmste Aufgabe der leitenden Männer sein, diesen neuen Idealen ihren zutreffenden Ausdruck in einer neuen Gerichtsverfassung zu geben.

Quelle: "Deutsche Richterzeitung", August 1965, S. 258ff, nach den Stenographischen Berichten über die Verhandlungen des Preußischen Herrenhauses