Holger Strohm: „GAIA weint“

oder

Das Wunder des Seins und das Böse

 

Verlag: Wider die Zensur

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Als Teilvorabdruck präsentieren wir das Vorwort des parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesumweltministerium Michael Müller (SPD)

 

DIE FALSCHE EINRICHTUNG DER WELT ERKENNEN

von Michael Müller

Die falsche Einrichtung der Welt, das wissen wir von Max

Horckheimer, ist die Ursache für Krisen, Unordnung und

Ungleichheit. Zwar werden mit der globalen

Informationsgesellschaft die eklatanten Widersprüche in der

Verteilung von Macht, Chancen und Reichtum allen Menschen,

gleich wo sie auf dem Globus zu Hause sind, vor Augen geführt.

Dennoch geschieht wenig, denn zugleich sind auch die

Mechanismen der Manipulation, Verschleierung und

Herrschaftssicherung subtiler und wirkungsvoller geworden.

Vor allem überwiegt das Gefühl der Ohnmacht, sich gegen den

„Sachzwang Weltmarkt“ (Helmut Schmidt) durchsetzen zu können.

Für die positive Alternative fehlt eine konkrete Utopie, wie eine

soziale Ordnung aussehen kann, die in der Globalisierung allen

Menschen zu Gute kommt. Einfache Lösungen gibt es dafür

allerdings nicht.

Warum aber tun wir uns so schwer, einen eigenen Weg der sozialen

und ökologischen Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft

zu gehen? Das hat viel mit einer Gefangenheit in einem verengten

Denken zu tun, dass eine Gesamtsicht erschwert, eine

Durchdringung von Zusammenhängen verhindert und eine

Ablösung von eingeschliffenen Mustern blockiert.

Und es hat auch viel mit Egoismus, Geld und Macht zu tun, mit

dem Reiz des Globalismus, in dem Benjamin Barber eine

gigantische Affenfalle sieht. Das ist eine Kiste mit einem Loch in

der Oberseite, in der eine Kokosnuss liegt. Der Affe will sie

unbedingt herausholen, aber er schafft es nicht, denn das Loch ist

kleiner als die Frucht, also nicht groß genug, um das Objekt der

Begierde zu bekommen.

Die Falle funktioniert perfekt. In seiner Gier zieht der Affe den

Arm nicht zurück, sondern hält die Nuss solange fest, bis er

entweder gefangen wird oder verhungert ist. Er kann sich dem Reiz

der Frucht nicht entziehen. Übertragen heißt das: Die

Kommerzialisierung der Welt übt einen schizophrenen Reiz aus.

Obwohl Angst und Unsicherheit überwiegen, vermittelt sie die

Illusion von Überlegenheit und Wohlstand, der sich kaum einer

entziehen kann.

Offenkundig halten uns die Zwänge der Gegenwart so sehr in

Atem, dass wir fast nur noch die aktuellen Probleme sehen, deren

Triebkräfte wir genauso wenig verstehen wie wir die Chancen und

die Möglichkeiten der weiteren Zukunft erkennen. Diese

Unfähigkeit kommt nicht von ungefähr.

Nach Eric Hobsbawm ist eines der beunruhigenden Phänomene

unserer Zeit, dass wir mit der Beschleunigung der Abläufe und der

Globalisierung aller Prozesse in einer Art permanenter Gegenwart

leben, in der trotz der großen historischen Rucksäcke, die wir

schultern, die Verbindungen zu Vergangenheit und die

Perspektiven zur Zukunft gekappt werden. Die Folgen sind ein

Verlust an Identität und Orientierung.

Der englische Sozialhistoriker beschreibt das so: „Die Zerstörung

der Vergangenheit, oder vielmehr jenes sozialen Mechanismus, der

die Gegenwartserfahrung mit derjenigen früherer Generationen

verknüpft, ist eines der charakteristischsten und unheimlichsten

Phänomene. Die meisten jungen Menschen wachsen in einer Art

permanenter Gegenwart auf, der jegliche organische Verbindung

zur Vergangenheit ihrer eigenen Lebenszeit fehlt“.

Was auf der Strecke bleibt, ist ein kritisches Denken. So wächst der

Widerspruch zwischen der explosiven Zunahme an Wissen und

einem vernunftbetonten Handeln. Wir werden immer mehr zu hoch

gebildeten Idioten, weil die steigende Perfektion in Teilsektoren in

einem krassen Missverhältnis zur schwindenden Gesamtrationalität

steht. Wir wissen immer mehr, verstehen aber immer weniger.

Ausschlaggebend dafür sind in erster Linie ökonomische

Mechanismen, die die Jagd nach heißem Geld diktieren. Das Diktat

der Quote, das die Medien beherrscht, ist in der Wirtschaft

insgesamt der schnelle Gewinn. Das zentriert die Entscheidungen

auf eine durchökonomisierte Gesellschaft. Nicht die Kultur hat die

Hegemonie, sondern der Zwang der Renditen. Wir verlieren die

Maßstäbe von Zeit und Wert.

Im Regime des globalen Kapitalismus findet ein unerklärter Krieg

mit der Zukunft statt, der auf alle zurückwirkt, besonders auf die,

die nicht mitkommen, weil sie nicht über die ökonomischen oder

machtpolitischen Voraussetzungen verfugen, die heute den

Wettbewerb um Anerkennung und Wohlstand bestimmen. Doch es

kann kein gutes Leben geben, wenn dies allein unser Leben

bestimmt.

Europa würde zerbrechen, wenn nur Markt und Kapital zählen. Der

Kern der europäischen Moderne ist die Idee der sozialen und

solidarischen Gesellschaft. Deshalb ist der Ausbruch aus der

ideologischen Gefangenschaft dringend notwendig. Das Mittel

dafür ist die Dialektik der Aufklärung.

Sie ist immer dann angesagt, wenn eine neue Epoche erreicht wird,

die dann auch eine neue Orientierung erfordert. Die Globalisierung

spült nämlich gefestigte Kategorien, Perspektiven und Institutionen

mit derselben Rücksichtslosigkeit weg, wie das schon mit den

„Ewigkeiten“ vergangener Epochen geschehen ist. Umso wichtiger

ist kritisches Denken - Aufklärung im richtig verstandenen Sinne.

Das 20. Jahrhundert endete nämlich mit Problemen, die neue

Antworten notwendig machen. Die Krise der öffentlichen

Haushalte, eine wuchernde Bürokratie, der demografische Faktor,

bedrohliche ökologische Schäden und ein Epochenbruch im

Wachstum, weil das Jahrhundert der Expansion im Verbrauch von

Naturkapital unwiderruflich seinem Ende zuneigt.

Aber auch die verschärfte Konkurrenz und die Schwächung des

Nationalstaates entzogen der sozialstaatlichen Politik wichtige

Voraussetzungen. Heute heißt es: fressen oder gefressen werden.

Das zeigt erneut: Einen evolutionären Selbstlauf der Zivilisation in

eine gute Zukunft gibt es nicht. Die Produktionsverhältnisse

müssen neu geordnet werden. Andernfalls bestätigt sich das

pessimistische Diktum von Max Horkheimer und Theodor W.

Adorno, die in ihren Arbeiten die destruktive Seite des Fortschritts

aufgezeigt haben. Die Herrschaft derjenigen, die ihre Vorteile

immer weiter ausbauen wollen. Sie mündet in Verhältnissen, nach

deren „Nutznießern man fast vergeblich sucht“.

Für den „Systemübergang" in die soziale und ökologische

Gesellschaft der Zukunft existieren keine fertigen Rezepte. Um den

Modernisierungsrückstand der Politik und Zivilgesellschaft zu

beseitigen, müssen beide Seiten - Ökonomie und Technik auf der

einen und Soziales, Natur und Kultur auf der anderen Seite - in

einer höheren Ordnung zusammengeführt werden. Das ist vor allem

eine gewaltige Anstrengung an unser Verständnis von Freiheit und

Verantwortung.

Diese Gestaltung der Welt ist eine große Geschichte, die ein gutes

Leben für alle verwirklichen wird. Eine solche große Botschaft

demokratischer Gestaltung ist erneut notwendig.

Die erste große Chance wurde bereits vertan. Nach 1989 lag dem

Westen die Welt zu Füßen. Er hatte alle Möglichkeiten, doch er

ließ sich von seiner scheinbar totalen Überlegenheit, aus der pure

Maßlosigkeit wurde, blenden. Wäre der Westen klug gewesen,

hätte er eine Weltinnenpolitik begonnen. Aber er war nicht klug. Im

Gegenteil. Er erkannte nicht, dass der Zusammenbruch des Ostens

auch ein Warnschuss vor den eigenen Bug war.

 

Holger Strohm gehört zu der wertvollen Spezies der kritischen

Querdenker, die jede Gesellschaft braucht. Doch sie werden in

Sonntagsreden gelobt, im Alltagsleben jedoch als störend und

realitätsfern weggedrückt. Auch das ist ein merkwürdiger

Widerspruch, denn obwohl sich unsere Zeit nach Orientierung

sehnt, wird sie, sobald sie politisch ist, bekämpft und ausgegrenzt.

Holger Strohm kann ein Lied davon singen. Weil er schon ab 1970

auf zukünftige Klimaveränderungen und auf viele Umweltgefahren

wie Atomenergie und Genmanipulation hinwies, wurde er

„kaltgestellt“. Er erhielt drei verschiedene Berufsverbote - als

Industrieberater, Lehrer und Autor - und musste mannigfaltige

Repressalien über sich ergehen lassen. Fast alle seine Bücher,

Artikel und Interviews wurden zensiert, und er wurde nach der

Reaktorkatastrophe von Tschernobyl - die er Wochen zuvor in

Dutzenden Vorträgen voraussagte - für ein Jahrzehnt ins Exil

verbannt. Im Ausland wies man daraufhin, dass es in Deutschland

kein Buch mehr von ihm zu kaufen gäbe. Der deutsche Buchmark

sei komplett gesäubert worden. Daher sollte es keinen überraschen,

dass auch dieses Buch keinen Verleger fand, wie schon Dutzende

seiner Bücher zuvor. Dabei versucht Strohm doch nur, die

Menschheit vor der eigenen Selbstausrottung zu bewahren. Wie wir

immer mehr bemerken, kristallisierten sich seine Warnungen im

Laufe der Jahrzehnte zur Realität. Und so gab die Entwicklung

nicht seinen Kritikern, sondern meist ihm Recht. Dennoch tun wir

uns schwer, mit seinen kritischen Gedanken konstruktiv

umzugehen.

Dabei liefert Holger Strohm wichtige Erklärungsmuster, und er gibt

Anstöße zu einem kritischen Denken. Das ist, ohne alles teilen zu

müssen, das Wichtigste. Das würde sogar jedem kritischen Geist

widersprechen, alles abzunicken. Zur Freiheit des Menschen und

zur Qualität einer Gesellschaft gehört unbedingt, den eigenen Kopf

zu benutzen. Das Buch von Holger Strohm ist ein Anlass, dies noch

mehr zu tun. Sein Buch ist ein Beitrag, um die falsche Einrichtung

der Welt zu beenden.