Europäischer Antisemitismus
Das Ausrotten der Juden hat sich in mehr oder weniger brutalen Formen erstaunlicherweise überall dort vollzogen, wo die Religion des Heilandes Christus erschien, die doch einen ganz anderen Umgang mit dem Nächsten, dem Mitmenschen gebot. Keinesfalls nur in Deutschland, auch bei anderen Völkern Europas kann man – wiederum auch heute noch – Judenfeindschaft registrieren. Einige Beispiele sollen das zeigen:
1.
In Frankreich wurde der Antisemitismus durch einen frommen Katholiken vorbereitet
... : durch den Orientalisten, Historiker und Philologen Ernest Renan
(1823/92), der zwar auf dem Priesterseminar den Beruf eines Geistlichen aufgab,
aber als Professor später sein Hauptwerk „Vie de Jesus“ (Leben Jesu) 1863
schrieb. Er war Mitglied der berühmten Akademie Frankreichs und wetterte viel
gegen den „semitischen Geist“. Die Semiten seien „minderwertig“ und unfähig,
an kultureller und zivilisatorischer Entwicklung teilzuhaben. Allerdings
schränkte Renan ein, daß die Juden hiervon auszunehmen seien, da sie jetzt
außerhalb der jüdischen Rasse ständen und sich inzwischen „modern“ umgebildet
hätten. Auf ihn folgte dann der Schrittmacher des modernen Antisemitismus in
Frankreich, der begabte Demagoge und Schriftsteller Edouard Drumont (1844/1917),
der als Jude galt, der ein zweibändiges Werk über das jüdische Frankreich „La
France juive“ (1885) verfaßte und 1898/1902 gerade während des Dreyfuß-Skandals
Parlaments-Abgeordneter war. 1886/1907 leitete er die illustrierte Zeitschrift
„La Libre Parole“ (Das Freie Wort), die ein Vorläufer des Streicherschen
„Stürmer“ gewesen ist und organisierte 1889 eine sehr lebendige antisemitische
Bewegung, die Französische Antisemiten-Liga. Die französische Judenfeindschaft
war stets mit einer starken Abneigung gegen Deutschland verbunden, weil das
Gros der französischen Juden — nach der Austreibung von 1306 — aus Deutschland
und aus den deutschen Landen Elsaß und Lothringen nach Frankreich einwanderte.
Ein literarisches Beispiel hierfür ist die widerwärtige Figur des neureichen
Juden Baron Nucingen, der (ähnlich dem Moses Freudenstein bei Wilhelm Raabe
...) in den Romanen des konservativen Schriftstellers Honore de Balzac
(1799/1850) auftaucht. So verbanden sich hier, ähnlich wie später in Deutschland,
Antisemitismus, Nationalismus und Militarismus zu einem gefährlichen Bündnis.
Zum Teil kam hier auch eine Reaktion auf die Kirchenfreundlichkeit Kaiser
Napoleons III. und auf den riesigen Finanzskandal des Jahres 1892 zum Ausdruck.
1894 platzte die Bombe dann im Dreyfuß-Skandal, der ein durchaus
antisemitisches Gepräge trug. Letzte Folge war in Frankreich die Trennung von
Kirche und Staat, die staatliche Kontrolle des Schulunterrichts, die Ausweisung
der katholischen Orden aus dem Lande und die Einziehung des Kirchenvermögens
zugunsten des Staates. Zu den Grundlagen französischer Jugendfeindlichkeit des
19. Jahrhunderts gehören übrigens zwei sonst kaum bekannte Bücher: „Les Juifs,
rois de l'epoque“ von Toussenel, sowie „Le Juif, le Judaisme et la Judaisation
des peuples chretiens“ von Gougenot des Mousseaux — 1920 von Alfred Rosenberg
ins Deutsche übersetzt — auch wieder aus christlichem Geiste heraus produziert.
Aus dem Jahre 1928 sei noch das wenig verbreitete umfangreiche geschichtliche
Werk „Sur les ruines du temple“ (Auf den Ruinen des Tempels) erwähnt, das der
französische Jesuiten-Pater Joseph Bonsirven verfaßte und mit Anti-Judaismen
füllte. Diese fanden sich auch bei einigen Sozialisten Frankreichs — im
Gegensatz zu ihren Freunden von der Deutschen Bruderpartei. So behauptete Charles
Fourier (1782/1837, Kaufmann und Schriftsteller), die Juden hätten sich in der
Geschichte „nur durch Verbrechen und Brutalität“ hervorgetan. Pierre-Joseph
Proudhon ... meinte, der Jude sei ein bloßer „Zwischengänger, immer falsch und
parasitär, der sich im Geschäft wie in der Philosophie der Fälschung,
betrügerischen Nachahmung und Roßtäuscherei bedient“. Die Juden hätten „alle
Zeitungen in der Hand und lenken die Politik in Deutschland wie in
Frankreich“. Georges Sorel ... warf ihnen Unterstützung der obszönen Literatur
vor; während der belgische Sozialist Edmond Picard (1836/1924) forderte, Jesus
müsse als ein zufällig in Judäa geborener Arier betrachtet werden.
2. In
England ist der Antisemitismus nicht so stark vertreten, wie im
katholischen Irland, da es dort
stets nur wenige Juden gab. Bereits 1275, 15 Jahre vor der großen Judenaustreibung aus dem Lande, befiehlt König Eduard I., daß der gelbe Judenstern vom 7. Lebensjahre an von allen Angehörigen des mosaischen Glaubens zu tragen sei. Erst im 19. Jahrhundert taucht die britische Judenfeindschaft dann wieder auf, und zwar in Opposition zu dem großen englischen Staatsmann Disraeli. Eine weitere Antipathiewelle macht sich im Ersten Weltkriege und danach bemerkbar; gefördert wird sie von:
a)
dem
entschiedenen Katholiken und Unterhausabgeordneten 1906/10 Hilaire Belloc,
einem geborenen Franzosen (1870/ 1953). Er sieht in den Juden ein fremdes Volk,
einen Fremdkörper im Organismus, der Spannungen hervorruft, die beseitigt
werden müssen; das will Belloc durch Anerkennung einer besonderen jüdischen
Nationalität erreichen. Sein Buch „Die Juden“ erschien in deutscher Übersetzung
im katholischen Verlage Kösel und Pustet 1927.
b) Dem sehr eifrigen Katholiken
und Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton (1874/1936), konvertiert 1925, welcher 1922 das Buch „The
Jews“ schrieb (deutsch 1927).
c) Der Sozialistin Beatrice Webb
(1858/1943, Gattin des führenden englischen Sozialpolitikers Sidney Webb-Lord
Passfield,) welche behauptete, die jüdischen Einwanderer stellten
für den Nationalcharakter der Engländer „eine ständige Gefahr der
Herabwürdigung“ dar.
1918
bildete sich dann in Großbritannien eine eigene antisemitische Organisation
„The Britons“. Auch die faschistischen Schwarzhemden des heute dort noch
wirkenden Katholiken Sir Oswald Mosley ... sind natürlich Judenfeinde — obgleich
ihr Chef wohl jüdischer Abkunft ist.
3. In Holland und Belgien ist nur ein sehr
unerheblicher Antisemitismus zu bemerken.
4. In Polen dagegen hatten die dort
zahlreich wohnenden Juden immer viel zu leiden gehabt. Nach Gründung der
polnischen Republik 1918 gab es die ersten schweren Pogrome, denen 1939/40 und
1945/46 weitere folgten. Vor 1933 wurde für sie z. B. ein Numerus clausus an
den Universitäten und Hochschulen eingeführt ... . Die seit 1926 in Opposition
befindliche Nationaldemokratische Partei vertrat den Antisemitismus.
5. In der Tschechoslowakei gab es seit 1919 antijüdische
Pogrome.
6. In Rumänien bildete sich 1927 eine
antisemitische „Liga des Erzengels Michael“, die sog. Grünhemden mit roter
Armbinde, eine wiederum aus katholischem Geiste kommende Kampftruppe, die 1933
verboten wurde. Natürlich war auch die 1937 von den Faschisten Codreanu und
Professor Cuza gegründete Eiserne Garde judenfeindlich.
7. In Ungarn zog mit dem Reichsverweser
Admiral Nikolaus von Horthy 1919 nach dem Sturz der vornehmlich von Juden
geleiteten roten Räte-Republik des Bela Kun und seines Henkers Tibor Szamuély
als Reaktion ein starker Antisemitismus ein. Er wurde allerdings bis gegen Ende
des Zweiten Weltkrieges durch Demokratisierung erheblich gemildert. Seine Maßnahmen
erörterten beide Häuser des Parlaments in aller Öffentlichkeit.
8. In Spanien, wo es seit der grausamen
Verfolgung des Torquemada (ein getaufter Jude) fast keine Juden mehr
gab, fand die letzte Judenverbrennung erst 1826 statt! Die Republik bemühte
sich nach dem Sturze des Diktators Primo de Rivera eine liberale Praxis zu üben — ein Brauch, der auch
unter der Herrschaft des faschistischen Diktators Franco beibehalten wurde.
9.
Nennen wir schließlich noch die Vereinigten Staaten von Amerika, die bis
auf den heutigen Tag eine starke antisemitische und rassenkämpferische Tendenz
aufweisen und ihre Demokratie dauernd mit Ausschreitungen solcher Art abwerten.
Sie haben darin eine alte Tradition, wenn man an den berühmten Gelehrten und
Staatsmann Benjamin Franklin (1706/90), den Erfinder des Blitzableiters,
Gouverneur und Botschafter der USA in Paris denkt, der bereits 1789 Gesetze
gegen die Juden forderte und die USA vor einer jüdischen Invasion warnte. Auch
hier wird ihr Rassenhaß durch eine christliche Einrichtung gefördert:
vertreten von dem berüchtigten Geheimbund Ku-Klux-Klan, der ähnlich den
Freimaurern, die er aber wie Juden, Katholiken und Neger bekämpft, seit 1866
organisiert ist, mit der linken Hand den Hitlergruß ausübt und auf den
Gewändern das Christuskreuz trägt. Sie hatten auch Einfluß auf die Einwanderungsgesetze
der USA von 1921/24, welche die jüdische Einwanderung auf ein Zehntel absinken
ließen ... . Die USA wehrten sich aus diesem antisemitischen Geiste heraus und
trotz ihrer zum Teil hohen jüdischen Politiker so heftig gegen jede Einwanderung
jüdischer Verfolgter aus dem Machtbereich Hitlers, daß sie diese lieber ihrem
furchtbaren Schicksal überließen, als sich von ihren Dollars zu trennen. Das
ist ihnen in diesen Jahren von Ben Gurion, Joel Brand und anderen Israeliten
und Zionisten immer wieder vorgehalten worden. Einen neuen Höhepunkt erreichte
der Klan, der gewisse Sympathien für den Faschismus hegte, nach 1945 unter dem
Großmeister und Arzt Samuel Green. Übrigens trat auch der erfolgreiche
amerikanische Industrielle und Freimaurer Henry Ford I. (1863/1947), einer der
reichsten Männer der Welt, mit seinem Buche „The international jew“ (2 Bände,
deutsch 1922) sowie als Gründer der antisemitischen Zeitung „Dearborn
Independent“ hervor, mußte aber 1927 aus wirtschaftlichen Gründen den Rückzug
antreten. Hitler ehrte Ford später durch Verleihung des Großkreuzes des
Ordens vom Deutschen Adler.
Eine Sonderstellung nimmt der
Antisemitismus in Rußland ein, wo die massenhaft wohnenden Juden seit je
übel behandelt und verfolgt wurden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden ca. 5
Millionen Juden in Rußland gezählt, deren Wohnrecht im wesentlichen auf
bestimmte „Rayons“ beschränkt war, auf Polen, Weißrußland, Litauen, die
Ukraine und Krim, während im übrigen Reiche noch etwa deren 310.000 lebten;
Landerwerb war ihnen versagt, die Aufnahme in die Beamtenschaft für sie
faktisch ausgeschlossen und der Zugang zu Studium und freien Berufen durch den
Numerus clausus nur wenigen möglich. Letztlich brach am Ende der
stalinistischen Epoche eine Zeit der Pogrome über die russische Judenheit
herein, die wohl bis heute noch nicht abgeschlossen ist. Angeregt von Zar
Alexander III. als Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche und deren Oberprokurator
Pobiedonoszew bekamen die Pogrome nach der Ermordung Zar Alexanders II. neuen
Auftrieb und wurden die Rechte der Juden im Lande 1882 stark und erneut beschränkt.
Dabei richteten die Verfolgungen sich auch vielfach gegen die Deutschen, wie
schon in Frankreich sich Antisemitismus und deutschfeindlicher Chauvinismus
miteinander verbanden — in Rußland war es der auflebende Panslawismus in seinem
Haß gegen den Germanismus. Von den im Lande lebenden zwei Dritteln aller Juden
der Welt wanderten dann Millionen aus ... . Es muß allerdings erwähnt werden,
daß die in Rußland stets unterdrückten Juden sich natürlich vielfach auf
Seiten des Fortschritts und der Revolution stellten und damit zu den Anführern
der Sozialisten, Nihilisten, Anarchisten, Terroristen und schließlich sogar der
Bolschewisten wurden. Wilhelm Marrs Pamphlet gegen die Juden ... wurde aus dem
Deutschen in Russische übertragen. Als dann das „Provisorische Reglement“ von
1882 den Juden neun Zehntel ihres Wohngebietes entzog und damit ihre
Freizügigkeit erheblich einschränkte, berief sich das Zentralkomitee für die
Judenfrage im russischen Innenministerium zur Begründung seiner verfügten
Härten auf die junge antisemitische Bewegung in Deutschland und eben deren
Schriften. Eine besonders verhängnisvolle Untermauerung für diese Pogrome
bildeten die sog. „Protokolle der Weisen von Zion“ ... , die eine weitverzweigte
Welt-Judenorganisation nachweisen wollten, welche nach der Macht über alle
Völker strebe. Urheber dieser Protokolle, die angeblich im Zentralpunkt der
jüdischen Weltverschwörung, in der damals gerade gegründeten Pariser Alliance
Israélite Universelle entstanden sein sollten, war angeblich der jüdische
Renegat und russische Polizeispitzel Jakob Brafmann. Und tatsächlich sind die
Dokumente auch in Paris hergestellt worden — und zwar im dortigen Büro der
russischen Ochrana (Geheimpolizei), in den Jahren 1895/1900. Nach einer ersten
Veröffentlichung durch G. Butmi erfolgte die zweite und dem Zaren überreichte
Veröffentlichung durch Sergej Nilus 1905. In der Folge gab es neue Pogrome
gegen die russischen Judenschaften, welche z. T. von einer neuen
faschistenartigen Organisation getragen wurden, dem 1905 gegründeten
„Russischen Volksbund“. Dessen Knüppelgarden nannten sich, als Vorbild der
späteren deutschen SS gewissermaßen, die „Schwarzen Hundert“, die
schwarzgekleidete Kampfgruppe des vaterländischen Bundes. Sie waren als
antisemitisch-antideutsche und panslawistische Fraktion sogar im russischen
Parlament, der Duma, vertreten. Als ihr Presseorgan fungierte die „Nowoje
Wremja“ (Die Neue Zeit). Diese rechtsextremistische Terrorbande, die in den
Revolutionsjahren 1905/06 Greueltaten verübte, wurde sogar von Zar Nikolaus II.
belobigt. Sie sprach bereits von einer Verschwörung der jüdischen
Revolutionäre mit dem jüdischen Kapitalismus.
Gleich nach dem Ersten Weltkriege, 1918/19, kam es
in Polen und der Ukraine zu blutigen Judenpogromen in über 100 Städten. Dabei
gab es allein in Kielce Hunderte von Toten und Schwerverletzten. Anführer
dieser Verfolgungen waren meist die Kommandeure der Truppen. So z. B. machte
die Petljura-Armee in Proskurow mehr als 1000 Juden nieder und ermordete deren
30.000 allein in der Ukraine.
Quelle:
„Bevor Hitler kam“ von Dietrich Bronder, 2. Aufl., Genf 1975, S. 362 – 367 (Der
Vorspann wurde vom Bearbeiter umformuliert)