Ende der Mittelschicht

 

Soziale Schichten im Zusammenhang mit dem Stellenabbau in den Opel-Werken - Zusammenhänge und Auswirkungen

 

1) Prognose 1999: Ende der Mittelschicht

 

Die Mittelschichten, die Träger des Wohlstands im Lande, stehen in Deutschland und im restlichen reichen Europa vor ihrem Ende. "Die Mittelschicht wird deutlich abschmelzen (...)             

die Löhne abhängig Beschäftigter werden mit den Wachstumsraten, die bei Managergehältern und bei den Gewinnen, die aus Besitz an produktivem und finanziellem Kapital resultieren, bei weitem nicht mithalten können ( ... ) Ein Zweit‑ und Drittarbeitsverhältnis zum Halten des Lebensstandards wird für viele Menschen üblich." Zu diesem Ergebnis kam vor etwa fünf Jahren der Arbeitskreis "Gesellschaft und Technik"  der Daimler-Chrysler AG in Berlin in einer Studie über den wahrscheinlichen Ablauf der Entwicklung in den nächsten Jahren. Die Ereignisse im Zusammenhang mit den Sanierungsmaßnahmen bei Opel und Karstadt-Quelle bestätigen diese Prognose.

 

Daraus können wir erkennen, dass Deutschland mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung die gleichen Entwicklungen erleidet, wie sie in den USA zu beobachten waren.

 

Der mir für das Referat überlassene Artikel aus der ZEIT vom 21. Oktober 2004 bestätigt diese Entwicklungstendenzen und beleuchtet die Zusammenhänge im Einzelnen:

 

2) Keine allgemeine Wirtschaftskrise in Deutschland

 

Der ZEIT-Artikel stellt voran, dass von einer allgemeinen Krise in Deutschland keine Rede sein kann, wenn Firmen wie Porsche, BMW, aber auch Aldi und Lidl hohe Gewinne erwirtschaften. Wenn bei Opel, Karstadt-Quelle, Volkswagen und Spar schwerwiegende Probleme aufgetreten sind, so sei dies in Fehlern der Firmenleitung begründet, die eben den sozialen Wandel und dessen Auswirkungen auf das Verhalten der Verbraucher nicht oder zu spät erkannt hätten.

 

3) Wirtschaftliche Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg

 

Um die Zusammenhänge zu verstehen, muß man die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges betrachten, die ganz bestimmte gesellschaftliche Strukturen wesentlich mitbestimmt hat. Von der Gründung der Bundesrepublik bis in die achtziger Jahre verfünfzehnfachte sich das reale Volkseinkommen. Da davon mehrheitlich die unteren Einkommensschichten profitierten, bildete sich eine starke Mittelschicht heraus, die weite Teile des gesellschaftlichen Lebens einschließlich des Konsums bestimmte. Dieser Entwicklungstrend ist spätestens mit der Wiedervereinigung gebrochen.

 

4) Wandel im Konsumverhalten - Einbußen beim Nettogehalt

 

Im Laufe der Jahre wurde ein Teil der Deutschen reicher und ein anderer Teil ärmer. Die Mittelschicht schrumpfte. Da auch noch der verbleibende Rest der Mittelschicht häufig seinen Geschmack änderte, kommt es zu solchen Krisen wie bei Opel und Karstadt.

 

Die Einbußen beim Nettoeinkommen, die insbesondere das Konsumverhalten der Mittelschicht beeinträchtigen, liegen unter anderem in dem starken Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge von 29 auf 42 Prozent insgesamt.

 

Hinzu kommt ein Wandel im Konsumverhalten der Bürger, die früher die klassische Mittelschicht darstellten. Man kauft heute einerseits preisbewußt bei Aldi ein, gönnt sich aber andererseits einen BMW oder einen Mercedes statt des früher gekauften Mittelklassewagens der Marken Opel, VW oder Ford. Diese Käuferschicht, die man "Smart Shopper" nennt, "blasen der Mitte das Licht aus". So hat es drastisch ein von der ZEIT zitierter führender Handelsberater formuliert.

 

5) Wechselwirkungen zwischen Massenentlassungen und Konsum

 

Auch durch solche Massenentlassungen, wie sie bei Opel bevorstehen und wie sie bei Karstadt und VW gerade so eben abgewendet wurden, verkleinert sich die Mittelschicht, zu denen die gut verdienenden Fließbandarbeiter der Automobilhersteller zählen. Es sind die Käuferschichten, die früher den selbstproduzierten Mittelklassewagen fuhren und Samstag bei Karstadt einkaufen gingen. In die Arbeitslosigkeit entlassen, wird man sich eben gerade noch einen Fiat Kleinwagen leisten können und die Möbel wird man bei IKEA kaufen, auch wenn diese in Osteuropa und nicht in Deutschland hergestellt wurden.

 

6) Fortschreitende Individualisierung

 

Dieser gesellschaftliche Wandel hat nicht nur einen finanziellen Aspekt, der vom sinkenden Realeinkommen der ehemaligen Mittelschicht bestimmt wird, sondern auch andere Ursachen oder Begleiterscheinungen. Kulturtheoretiker sprechen von einer "Massenflucht aus dem Mainstream" und einer "fortschreitenden Individualisierung", die ebenfalls zu einer Auszehrung der klassischen Mittelschicht führen. Die klassischen gesellschaftlichen Milieus lösen sich auf, das Bürgertum ebenso wie die industrielle Arbeiterschaft. Gerade eben noch ein Viertel der deutschen Arbeiter ist in einer Gewerkschaft des DGB organisiert. Das einst so stolze proletarische Bewußtsein ist drei Viertel der heutigen Arbeiterschaft nicht einmal mehr ein Prozent ihres Lohnes wert.

 

7) Entwicklung des Konsumverhaltens in vier Schritten

 

Opel und Karstadt sind durch bestimmte Geschäftsmodelle groß geworden, die heute nicht mehr der Entwicklung des Konsumverhaltens entsprechen. Das Konsumverhalten hängt wesentlich von der schnellen und zutreffenden Beurteilung gesellschaftlicher Entwicklungen ab, insbesondere von den Wünschen und der Finanzkraft der einzelnen Käuferschichten. Die Entwicklung des Konsumverhaltens vollzieht sich in vier Schritten. Nach der Stunde Null zu Kriegsende war zuerst "Bedürfnisökonomie" angesagt. Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Wohnraum erforderte alle Anstrengungen. Es folgte die "Ökonomie der Wünsche" durch die flächendeckenden Versorgung mit Fernsehgeräten, Kühlschränken und Waschmaschinen. Die dritte Stufe ist von Überfluß und Wohlstand geprägt. Der Kunde verlangt sofortige Versorgung auch mit neuesten technischen Entwicklungen. Unsere heutige Gesellschaft befindet auf dem Weg in die vierte Stufe, in der die Kunden überwiegend die Mechanismen der Wirtschaft und die Hintergründe der Angebote durchschauen und daran ihr Konsumverhalten ausrichten. Längst wissen die Deutschen von den Auswirkungen der Globalisierung. Sie wissen, dass ihre Kleidung in Asien und ihre Möbel in Osteuropa hergestellt werden, weil dort die Lohnkosten erheblich niedriger sind als in Deutschland. Sie brauchen sich für ihr Konsumverhalten nicht zu schämen oder mangelnden Patriotismus vorwerfen zu lassen, denn mit eben diesem Argument der Lohnkosten sind viele Deutsche gerade eben aus der Mittelschicht entfernt worden. Warum sollte man also freiwillig die hohen Preise für deutsche Produkte zahlen.

 

8) Konsequenzen für Arme und Wohlhabende in der Zwei-Klassen-Gesellschaft

 

Der heutige Verbraucher ist entweder arm und hat keine Wahl oder er ist klug genug, seinen Lebensstil billig und gut zu gestalten. Dazwischen scheint es nichts mehr zu geben. Dazu korrespondiert dann wieder der Weg in die Zweiklassengesellschaft, die nach Wegfall oder Bedeutungslosigkeit der Mittelschicht entsteht.

 

Quelle: Michael Winter - Katharineum zu Lübeck (11 c) - November 2004