Anschwellender Bocksgesang

(...) Wir warnen etwas zu selbstgefällig vor den nationalistischen Strömungen in den osteuropäischen und mittelasiatischen Neu-Staaten. Daß jemand in Tadschikistan es als politischen Auftrag begreift, seine Sprache zu erhalten, wie wir unsere Gewässer, das verstehen wir nicht mehr. Daß ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr und halten es in unserer liberal-libertären Selbstbezogenheit für falsch und verwerflich. Es ziehen aber Konflikte herauf, die sich nicht mehr ökonomisch befrieden lassen; bei denen es eine nachteilige Rolle spielen könnte, daß der reiche Westeuropäer sozusagen auch sittlich über seine Verhältnisse gelebt hat, da hier das 'Machbare' am wenigsten an eine Grenze stieß. Es ist gleichgültig, wie wir es bewerten, es wird schwer zu bekämpfen sein: daß die alten Dinge nicht einfach überlebt und tot sind, daß der Mensch, der einzelne wie der Volkszugehörige, nicht einfach nur von heute ist. Zwischen den Kräften des Hergebrachten und denen des ständigen Fortbringens, Abservierens und Auslöschens wird es Krieg geben. (...)

Die Hypokrisie der öffentlichen Moral, die jederzeit tolerierte (wo nicht betriebene): die Verhöhnung des Eros, die Verhöhnung des Soldaten, die Verhöhnung von Kirche, Tradition und Autorität, sie darf sich nicht wundern, wenn ihre Worte in der Not kein Gewicht mehr haben. (...)

Von ihrem Ursprung (in Hitler) an hat sich die deutsche Nachkriegs-Intelligenz darauf versteift, daß man sich nur der Schlechtigkeit der herrschenden Verhältnisse bewußt sein kann; sie hat uns sogar zu den fragwürdigsten Alternativen zu überreden gesucht und das radikal Gute und Andere in Form einer profanen Eschatologie angeboten. Diese ist mittlerweile so sturzartig in sich zusammengebrochen wie gewisse Sektenversprechen vom nahen Weltenende. Der Liberale erscheint nicht mehr liberal durch sich selbst, sondern mehr und mehr als entschiedener, sich immer liberaler rüstender Gegner des Antiliberalismus: Er gilt für liberal, er hat sich als solcher Geltung verschafft, er ist - in seinem öffentlichen Amt - geltungssüchtig und wird folglich immer rücksichtsloser liberal. Er ist ein ständig sich proklamierender, innerlich hochreizbarer, höchst benachbarter Widersprecher des Antiliberalen.
Zuweilen sollte man prüfen, was an der eigenen Toleranz echt und selbständig ist und was sich davon dem verklemmten deutschen Selbsthaß verdankt, der die Fremden willkommen heißt, damit hier, in seinem verhaßten Vaterland, sich die Verhältnisse endlich zu jener berühmten ("faschistoiden") Kenntlichkeit entpuppen, wie es einst (und heimlich wohl bleibend) in der Verbrecher-Dialektik des linken Terrors hieß.
Intellektuelle sind freundlich zum Fremden, nicht um des Fremden willen, sondern weil sie grimmig sind gegen das Unsere und alles begrüßen, was es zerstört - wo solche Gemütsverkehrung ruchbar wird, und in Latenz geschieht dies vielerorts, scheint sie geradezu bereit und begierig, einzurasten mit einer rechten Perversion, der brutalen Affirmation. (...)

Seltsam, wie man sich "links" nennen kann, da links von alters her als Synonym für das Fehlgehende gilt. Man heftet sich also ein Zeichen des Verhexten und Verkehrten an, weil man, voller Aufklärungshochmut, seine Politik auf den Beweis der Machtlosigkeit von magischen Ordnungsvorstellungen begründet. Rechts zu sein, nicht aus billiger Überzeugung, aus gemeinen Absichten, sondern von ganzem Wesen, das ist, die Übermacht einer Erinnerung zu erleben, die den Menschen ergreift, weniger den Staatsbürger, die ihn vereinsamt und erschüttert inmitten der modernen, aufgeklärten Verhältnisse, in denen er sein gewöhnliches Leben führt. Diese Durchdrungenheit bedarf nicht der abscheulichen und lächerlichen Maskerade einer hündischen Nachahmung, des Griffs in den Secondhandshop der Unheilsgeschichte. Es handelt sich um einen anderen Akt der Auflehnung: gegen die Totalherrschaft der Gegenwart, die dem Individuum jede Anwesenheit von unaufgeklärter Vergangenheit, von geschichtlichem Gewordensein, von mythischer Zeit rauben und ausmerzen will. Anders als die linke, Heilsgeschichte parodierende Phantasie malt sich die rechte kein künftiges Weltreich aus, bedarf keiner Utopie, sondern sucht den Wiederanschluß an die lange Zeit, die unbewegte, ist ihrem Wesen nach Tiefenerinnerung und insofern eine religiöse oder protopolitische Initiation. Sie ist immer und existentiell eine Phantasie des Verlustes und nicht der (irdischen) Verheißung. Eine Phantasie also des Dichters, von Homer bis Hölderlin. Der Rechte in solchem Sinn ist vom Neonazi so weit entfernt wie der Fußballfreund vom Hooligan, ja mehr noch: Der Zerstörer innerhalb seiner Interessensphäre wird ihm zum ärgsten, erbittertsten Feind. (Freilich: Dürfen von uns verwahrloste Kinder zu unseren Feinden werden?) (...)

Nach Dezennien der kulturellen Gesamtveranstaltung Jugendlichkeit findet man nun vor eine ziemlich aufgezehrte Substanz von Jugend, die letzte Progenitur der Nachkriegszeit, deren Überlieferungs- und Stimmungsgeschichte eine der Negationen und des Vaterhasses ist, häßliche Frucht aus der Vereinigung eines verordneten mit einem libertären bis psychopathischen Antifaschismus. Die Gesellschaft ist schuld! Die Erziehung hat versagt! Hört man sie ungerührt rufen im alten Stil, die Moderatoren. Wie blind und hilflos erscheinen jetzt die kritisch Aufgeklärten, die keinen Sinn für Verhängnis besitzen, die die dynamische Verkettung von Emanzipationen im Generationenwechsel so lange begrüßten, und jede aufständische, revolutionäre Potenz, bis sie, wie jetzt, ihren nackten, neutralen Kern entblößt: den brutalen Haß. Die Schamverletzungen, die die anarchofidele Erst-Jugend um 1968 herum beging, sind nun von rechts beerbt worden. Die neuen Jugendlichen tun zunächst nichts anderes als die ihr vorausgegangene Generation - sich großtun, Initiation betreiben durch Tabuzertrümmerung. (...)

Überhaupt ist pikant, wie gierig der Mainstream das rechtsradikale Rinnsal stetig zu vergrößern sucht, das Verpönte immer wieder und noch einmal verpönt, nur um offenbar immer neues Wasser in die Rinne zu leiten, denn man will’s ja schwellen sehen, die Aufregung soll sich ja lohnen. Das vom Mainstream Mißbilligte wird von diesem großgezogen, aufgepäppelt, bisweilen sogar eingekauft und ausgehalten. Das mediale Pokerface und die verzerrte Visage des Fremdenhassers bilden den politischen Januskopf - denn alles im Politischen läßt sich seitenverkehrt in einem Kopf vereinen. (...)

Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind "gefallene" Kultleidenschaften, die ursprünglich einen sakralen, ordnungsstiftenden Sinn hatten. (...)

Weder der einzelne noch die Menge unterhalten die geringste Verbindung zu Prinzipien der Entbehrung und des Dienstes oder zu anderen sogenannten preußischen Tugenden, die sich ein Hitler noch nutzbar machte. Eher würde diese Republik mit einem Wimmern enden (und hinter einer ähnlichen, scheinbaren verschwinden) als mit dem großen Knall, der Resurrektion des Führers. Es wird vermutlich so sein, daß die niedergehende Gesellschaft, ohne ihr System aufzugeben, in die Hände einer systemkonform arbeitenden Schattengesellschaft fällt. Daß hinter den schwachen Drahtziehern dann stärkere Drahtzieher auftauchen und diese in ihre Züge nehmen. (...)

Die Schande der modernen Welt ist nicht die Fülle ihrer Tragödien, darin unterscheidet sie sich kaum von früheren Welten, sondern allein das unerhörte Moderieren, das unmenschliche Abmäßigen der Tragödien in der Vermittlung. Aber die Sinne lassen sich nur betäuben, nicht abtöten. Irgendwann wird es zu einem gewaltigen Ausbruch gegen den Sinnenbetrug kommen. Wenn man nur nicht mehr von "Medien" spräche, sondern von einem elektronischen Schaugewerbe, das seinem Publikum die Welt in dem äußersten Illusionismus, der überhaupt möglich ist, vorführte. Aber eines Tages geschähe es eben, über Nacht, wie in einer universellen Mutation, daß die Seher allesamt des Sinnenglaubens verlustig gingen vor dem Fernsehschirm, und dort würden noch fortgesetzt die seriösesten Anstrengungen unternommen, um das Publikum wieder einzufangen, es erneut zu illusionieren, einzupegeln auf die moderierten Frequenzen. Doch sie werden nicht mehr empfangen. Das Weltschaugewerbe wirkt auf einmal wie ein verstaubter Zirkus, hat auf einen Schlag alle suggestive, realitätszersplitternde Macht verloren. Die in den Kästen werben und werben noch, geradezu mit todesängstlicher Anstrengung - doch das Publikum lächelt unerbittlich und milde zugleich: es glaubt einen anderen Glauben. Die Intelligenz der Massen hat ihren Sättigungsgrad erreicht. Unwahrscheinlich, daß sie noch weiter fortschreitet, sich transzendiert und 10 Millionen RTL-Zuschauer zu Heideggerianern würden. Hellesein ist die Borniertheit unserer Tage. Die High-Touch-Intelligenz, alle immer miteinander in Tuchfühlung, unterscheidet nicht mehr zwischen Fußvolk und Anführern. Was einmal die dumpfe Masse war, ist heute die dumpfe aufgeklärte Masse. (...)

Wenn man nur aufhörte, von "Kultur" zu sprechen, und endlich kategorisch unterschiede, was die Massen bei Laune hält, von dem, was den Versprengten (die nicht einmal eine Gemeinschaft bilden) gehört, und daß beides voneinander durch den einfachen Begriff der Kloake, des TV-Kanals für immer getrennt ist … Wenn man zumindest beachtete, daß hier nicht das gemeinsame Schicksal einer Kultur mehr vorliegt - man hätte sich einer unzählige Zeitungsseiten füllenden "kulturkritischen" Sorge endlich entledigt.

Quelle: Botho Strauss „Anschwellender Bocksgesang“ (Auszug)