Schönberg (20)

 

Geheime DDR-Unterlagen belegen: Auch radioaktiver Müll wurde in das Klo Europas gekippt!

 

Drei grüne Politiker durften erstmals die bisher streng geheimen DDR-Akten zur Mülldeponie Schönberg einsehen. Vieles, was sie fanden, bestätigte die schlimmsten Befürchtungen westdeutscher Umweltschützer. Aber sie fanden noch mehr.

 

Soviel Offenheit ist der grüne Kommunalpolitiker Günter Wosnitza aus dem heimischen Lübeck nicht gewohnt. Immer wieder seien ihm Akten in allen möglichen Sachen vorenthalten worden, schimpft er. Bei seinem Besuch Anfang März im DDR-Umweltministerium in Ostberlin war das ganz anders. Er und zwei weitere norddeutsche Grüne durften nach Herzenslust eineinhalb Tage lang in vertraulichen Unterlagen in einem eigens dafür hergerichteten Sitzungssaal stöbern. Zwei Meter Aktenordner zur größten Mülldeponie Europas im mecklenburgischen Schönberg.

 

Das Aktenstudium war eine durchaus lohnende Beschäftigung. Denn außer dem DDR-Gutachten über den geologischen Zustand der Deponie (HR 4/90) reichten die Ostberliner Umweltbeamten den westlichen Ökopaxen auch die bisher mit höchster Geheimhaltungsstufe versehenen Lieferverträge zur gefälligen Lektüre. Und darin fanden die Grünen endlich Beweise dafür, was westliche Umweltschützer seit Jahren befürchteten: Alles, was giftig ist und bundesdeutsche Deponieleiter höchstens mit der Kneifzange anfassen, lagert in Schönberg. Und nicht nur das. Die Unterlagen, so der Lübecker Grüne, belegen eindeutig, daß eine Reihe von Stoffen in Schönberg vor sich hinmodern, die selbst nach den Richtlinien der Deponiebetreiber dort nie hätten deponiert werden dürfen.

 

So zum Beispiel eine Lieferung aus dem Jahre 1982 mit der Antragsnummer D00582: Achtzig Tonnen Szintillatorlösung, eine Chemikalie, die für Meßgeräte benötigt wird. Haupteinsatzgebiet: Atomtechnische Anlagen und Kernforschung. Laut Liefervertrag sollte die Lösung, sagt Wosnitza, in Prüffläschchen geliefert worden sein. Also in flüssiger Form. Doch Flüssigkeiten hätten in Schönberg nie gelagert werden dürfen.

 

In der Schönberg-Dokumentation der Umweltschutzorganisation Greenpeace heißt es: "Explizit ausgeschlossen waren und sind folgende Abfallarten (...) flüssige oder nicht stichfeste Abfälle." Und das hat durchaus seinen Grund: Flüssigkeiten können nicht sicher deponiert werden. Zu groß ist die Gefahr, daß sie durch undichte Stellen in den Boden unter dem Deponiegrund versickern und dann ins Grundwasser gelangen. Bei der Lieferung D00582 handelt es sich zudem um ein besonderes Naß. Es besteht laut Aktenangaben zu 50 Prozent aus dem inzwischen von der Bundesregierung als krebsverdächtig eingestuften Lösungsmittel Toluol. Die farblose Flüssigkeit, die nach Benzin riecht, ist leicht brennbar und relativ flüchtig und damit grundwassergefährdend.

 

In der Bundesrepublik wird Toluol nach Angaben des Berliner Umweltbundesamtes überhaupt nicht deponiert. In reiner Form werden Restbestände wiederverwertet, als Abfall wird das Lösungsmittel verbrannt. Doch an dieser Form der Beseitigung schien der Auftraggeber von D00582 kein Interesse gehabt zu haben. Vielleicht auch deswegen, weil die gefährliche Toluollösung noch mit dem radioaktiven Tritium versetzt war. Eine brisante Mischung, bei der wohl jeder westdeutsche Müllentsorger dankend abgewunken hätte.

 

In der DDR schien man diese Bedenken nicht gehabt zu haben: Am 9. März 1982 gab das Ostberliner Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz sein OK für die Lieferung. Im April, so weiß Wosnitza nach seinem Ostberliner Aktenstudium, rollte dann die erste radioaktive Abfallieferung an. Dabei versicherten Betreiber der Deponie in der Vergangenheit immer wieder, radioaktive Abfallstoffe gäbe es in Schönberg nicht. Doch das war immer nur die Version für die Öffentlichkeit. Intern, so scheint es nach Wosnitzas Aktenstudium, wollte man mögliche Gefahren, die von radioaktivem Abfall ausgehen können, nicht ausschließen. Nach einer Radioaktivitätsmessung am 17. Februar 1987 im Grundwasserleiter im am Deponiegelände angrenzenden Selmsdorf, konnten die Betreiber aufatmen. Laut der Ostberliner Akten wurde dort kein Tritium nachgewiesen.

 

Das wundert den Hamburger Physiker Dieter Großmann nicht. Tritium werde im Wasser so verdünnt, daß es nicht mehr nachweisbar wäre. Tritium im Grundwasser sei auch nicht das große Problem: Wenn es in der Atemluft vorkomme, könne das gefährlich sein, weiß Großmann. In die Luft gelangen kann Tritium beispielsweise bei einem Deponiebrand, vor allem wenn die radioaktive Substanz in dem leichtbrennbaren Toluol enthalten ist. An Pfingsten 1988 brannte es auf der Deponie so sehr, daß die Rauchsäule noch in Lübeck zu sehen war.

 

Über den Radioaktivitätsgehalt der 1982 angelieferten achtzig Tonnen Szintillatorlösung wußten die Deponiebetreiber Bescheid. Der Lieferung war eine Analyse des Schweizer Institutes für Reaktorforschung in Wührenlingen beigefügt. Drei Proben, so konnte Wosnitza aus den Akten ersehen, wiesen eine Radioaktivität von 1100, 1200 und 700 Picocurie auf, ein Radioaktivitätsgehalt unter den Grenzwerten. Die Ergebnisse der Analyse waren auch dem Antrag beigefügt.

 

Den Antrag stellte laut Akten die Hamburger Abfallberatungsgesellschaft (ABG) über das Lübecker Hanseatische Baustoffkontor (HBK), das westdeutsche Generalunternehmen der DDR-Außenhandelsgesellschaft Intrac für Schönberg. Eine Stellungnahme zu der Lieferung war weder von der ABG noch der HBK zu erhalten. Wosnitza gegenüber der HR: "Den betreffenden Schriftwechsel haben wir gesehen." Anlieferer soll danach das baden-württembergische Sondermüllbeseitigungsunternehmen Reinger aus Wutöschingen/Horheim gewesen sein.

 

Walter Reinger, Inhaber des Unternehmens gegenüber der HR: "Ich habe noch nie ein Gramm in die DDR geliefert." Wieso der Name seiner Firma in den Schönberg-Akten im Ostberliner Umweltministerium auftaucht, kann er sich nicht erklären. Im übrigen seien bei einem Brand in seinem Betrieb im Jahre 1985 alle alten Unterlagen vernichtet worden. Reinger: "Wir entsorgen nur in Frankreich und der Bundesrepublik." In den DDR-Akten, so weiß Wosnitza, finden sich aber nicht nur der Name der Firma, sondern auch die richtige Telefonnummer und die genaue Adresse in dem außerhalb Südwestdeutschlands wohl kaum sehr bekannten Ort Wutöschingen. Zufall? Der Name "Hanseatisches Baukontor" sagt Reinger immerhin etwas. Aber: "Geschäftlich hatten wir nie zu tun."

 

Reinger und sein Sondermüllbeseitigungsunternehmen tauchen auch nicht als Schönberg-Lieferanten in einem Schreiben der HBK an die schleswig-holsteinische Landesregierung vom August 1982 auf. Als Abfallieferanten aus Baden-Württemberg wird nur die MVG Raststatt genannt: "Farbmittel, Mineralölschwämme, ölhaltige Putzlappen, Altmedikamente, sowie hausmüllähnliche Gewerbeabfälle." Von radioaktiven toluolhaltigen Flüssigkeiten ist keine Rede. Wußte HBK ein halbes Jahr später nicht mehr, was sie unter D00582 an die Intrac weitergeleitet hat?

 

Oder haben die "partiellen Gedächtnislücken von HBK" (Wosnitza) System? Die drei grünen Kommunalpolitiker sind jedenfalls noch mehrmals auf Merkwürdigkeiten bei ihrem Ostberliner Aktenstudium gestoßen, darunter auch auf verschiedene Lieferungen von radioaktiven Abfall.

 

Dabei haben sie manche Akten nur überflogen. Peter Ulrich, Bremer Grüner und beim Aktenstudium mit von der Partie: "Zu mehr reichte einfach nicht die Zeit." Sie wollen noch einmal nach Ostberlin und weiter Akten wälzen. Doch daran dürfte die HBK kaum interessiert sein. Insider wollen wissen, daß sich die Lübecker Abfallverdiener mit dem Gedanken tragen, eine Mecklenburger Müll GmbH zu gründen. Und dann käme an die Akten niemand mehr ran. Sie unterlägen dann wieder der Vertraulichkeit - zum Schutze der geschätzten Geschäftspartner.   Quelle: HR vom 15. März 1990