Britische Gerechtigkeit
Billies Prozeß
Das hat sich grade jetzt vor
dreihundert Jahren in London zugetragen: eines Abends erschienen im Bücherladen
von Jeremias Peacock in der Straße Zur kleinen Vergnüglichkeit in Southwark,
nicht weit vom Theater Die Weltkugel, ein paar bewaffnete Männer, geführt von
einer Magistratsperson mit fuchsroter Perücke, um den Buchhändler zu verhaften.
Der war über Land gefahren, und um nicht unverrichteter Sache abzuziehen,
notzüchtigten die Gerichtsdiener derweilen des Meisters Frau und junge Töchter.
Denn in dieser lebensfrohen Zeit wußte man auch der tristesten Amtshandlung
eine heitre Seite abzugewinnen. Aber als die Häscher fortgingen, fiel ihnen ein
kleiner fünfzehnjähriger Struwelkopf auf, Billie, der Ladenjunge, der, während
die Gerechtigkeit über ihm waltete, unbekümmert die Stufen fegte und dazu
Dideldum sang. Diesen Knaben ließ die Magistratsperson mitnehmen und in Eisen
legen.
Was aber war der Grund dieses
obrigkeitlichen Besuches? Die frommen Gemeindeältesten hatten Ärgernis genommen
an einem stattlichen Folioband, den Meister Jeremias in seinem Laden zum Kauf
anbot, weil darin die Schauspiele eines verstorbenen Komödianten namens
Shakespeare gesammelt waren, höchst verwerfliche Possenreißereien, vollgestopft
mit greulicher Unzucht und Indiskretionen aus königlichen Familien, in
knalliger Aufmachung überaus geeignet, dem Volk destruktive Tendenzen nahe zu
bringen. Da Meister Peacock indessen vornehme Kundschaft hatte und wohl
gelitten war bei Lady Topsey‑Turvey, der Gespielin von des Königs
jüngstem Bruder, so durfte er ungehindert das Land verlassen. Doch Billie, der
Ladenjunge, wurde in den Tower geworfen, dringend verdächtig, den Hochverrat
literarisch vorbereitet zu haben.
Um den schüchternen, wenig
redegewandten Knaben gesprächiger zu machen, ließ ihn der Untersuchungsrichter
mit Zangen zwicken und seine Gelenke auskugeln. Dann fragte er ihn mit der
natürlichen Liebenswürdigkeit eines Mannes, der über seinem Beamtencharakter
nicht sein Menschentum vergißt, ob er wohl wisse, daß die Werke jenes
Shakespeare wahre Breviarien seien für Königsmord und Konspiration, Bibeln des
revolutionären Umsturzes und der frevelvollen Kunst, das Volk aufzuhetzen.
Jammernd erwiderte Billie: er sei nur ein ungelehrtes Kind, könne nicht lesen
noch schreiben, wisse überhaupt nicht, was in den Büchern stehe und pflege sie
nur an der Farbe des Umschlags zu unterscheiden; übrigens habe er sie gar nicht
verkauft, sondern nur jeden Morgen abgestäubt. Dabei blieb er in gottloser
Verstocktheit.
Auch als Angeklagter vor des
Königs Obergericht wollte er sich zu keinem Geständnis bequemen. In dieser
Atmosphäre von zurückhaltendem Richterstolz und herber Sachlichkeit, die sich
dem Außenstehenden nicht so leicht erschließt, gelang es auch ihm nicht, sich
zu erschließen, und er wiederholte nur das in den peinlichen Verhören Gesagte.
So erkannte ihn das Gericht schuldig des todeswürdigen Verbrechens,
Umsturzliteratur mit dem Staubwedel pfleglich behandelt zu haben, anstatt sie,
wie pflichtgemäß, dem Feuer zu überliefern. Bald darauf wurde Billie, nachdem
man ihn vorher mit Ruten gestrichen, nach Newgate gebracht und dort gehängt.
Doch in den Wochen vor seiner
Hinrichtung hatte Billie in einer Zelle gelegen mit einem frommen Schwärmer,
dem sich in trunknen Visionen die freieste Verfassung der Welt offenbarte, ein
Saeculum der Gedankenfreiheit und der gewaltlosen Harmonie. Dieses Mannes Reden
erhitzten Billies armen Kopf, und sie mögen den seltsamen Traum verursacht
haben, den er in seiner letzten Nacht hatte: Er stand plötzlich in einem fernen
Jahrhundert und sah seinen Fall verhandelt von Richtern in feierlichen roten
Talaren. Und deren Ältester erhob sich und sprach mit der scharfen, beizenden
Stimme des Lord Oberrichters: Was Billie da vorbringe, seien Flausen; die literarischen
Qualitäten des Herrn Shakespeare wären ja unbestritten, doch das schließe nicht
aus, daß ein Andrer die Bücher dieses Autors für strafbare politische Zwecke
geeignet finde und sie in strafbarer Weise gebrauche. Er, Billie, aber habe als
Angestellter der Firma Peacock, ohnehin durch andre Beschlagnahmungen gewarnt,
die Pflicht zur sorgfältigen eignen Prüfung, gegebnenfalls auch zur Erkundigung
gehabt. Das habe er versäumt, und deshalb sei er zu verdammen. Während Billie
schmerzlich aufschrie, zerplatzte sein Traum. Die Büttel ergriffen ihn und
servierten ihn erst dem Priester, dann dem Henker.
Der Verkünder des Dritten
Reichs hatte sich umsonst bemüht. Billie, der Ladenjunge, von seiner Zeit
verstoßen, starb ohne Glauben an die Zukunft.
Quelle: Carl von Ossietzky in "Die Weltbühne", 8. März 1927