Wuthenow an Maihofer

 

Nach über 31 Jahren immer noch brandaktuell!

 

„In Erwartung Ihrer Hilfe ...“

 

Offener Brief an den Bundesminister des Inneren, Werner Maihofer

 

Hochgeehrter Herr Minister! Es ist keine Übertreibung, wenn ich Ihnen erkläre, daß tiefe Sorge mich ver­anlaßt, einen offenen Brief an Sie zu richten. Dabei ist es nicht einmal die keineswegs ganz unberechtigte Befürch­tung, das Ihrer Behutsamkeit unterstehende Bundesamt für Verfassungs­schutz werde mit der von ihm geübten Praxis die Zahl der Unzufriedenen, also der Feinde dieser Gesellschaft und ins­besondere auch die der Kommunisten verschiedener Richtungen sehr bald be­trächtlich vermehren — eine solche Be­sorgnis wird doch voll ausgeglichen durch die fröhliche Erwartung, daß die andererseits notwendige Vermehrung der Mitarbeiter des Verfassungsschutzes die wachsende Zahl der Arbeitslosen sinnvoll und erfolgreich eindämmen werde, nein, meine Sorgen haben noch andere Gründe. Sie Ihnen mitzuteilen, warnt mich die Vorsicht und treibt mich zugleich mein Gewissen. Das ist so paradox nicht, wie es klingt.

Informationen, die ich vor kurzem er­halten habe — in der besagten Organisation würde man gewiß von Erkennt­nissen sprechen — haben mich ihr tiefe Betrübnis wiewohl auch wachsende Un­ruhe versetzt. Da wird z. B. einem mir sehr gut bekannten jungen Doktor die Anstellung als wiss. Assistent seit meh­reren Monaten versagt, weil er vor sechs Jahren sich, so meint man wohl, ganz fürchterliche Dinge geleistet hat, deren staatsgefährdender Charakter erst jetzt erkannt wird, obschon er in seiner Torheit gemeint hat, sie werden mit der Verfassung übereinstimmen, was damals wohl auch noch der Fall war. Er ahnte nicht, daß dies eines Tages nicht mehr so sein werde, nämlich seit diese Verfassung geschützt werden muß.

  Nun  ist  allerdings  begreiflich,  daß, wenn man die Spitzenrepräsentanten der Gesellschaft nicht mehr vor Geiselneh­mern und Attentätern bewahren kann, man  doch  wenigstens  die  Verfassung vor denjenigen schützen muß, die sie für einen Entwurf halten, der in einigen Punkten erst noch mit der Wirklichkeit in   Übereinstimmung   zu   bringen   ist. Doch hat man sicherlich gute Gründe, einen Lehrer, der schon seit Jahren erfolgreich tätig war, ohne sich etwas zuschulden kommen zu lassen, von seiner Wirkungsstätte zu entfernen. Zwar ist das   Grundgesetz   dagegen,   aber  eben weil der Betreffende so lange sich nichts  hat   zuschulden   kommen   lassen,   muß  man damit rechnen, daß er es jetzt tut.

  Aber ich werde, seit z.B. auch kom­munistische Eisenbahnbeamte aus dem staatseigenen Gleis geworfen werden, meine Unruhe nun einmal nicht mehr los. Ich bekenne mich schuldig, zumindest daran gedacht zu haben, daß die in ihrer Schwäche des Schutzes offenbar so bedürftige Verfassung in manchen Punkten erst noch zu verwirklichen sein könnte, ja, sogar Zweifel gehegt zu haben an der Rechtmäßigkeit mancher der durchgeführten Schutzmaßnahmen. Ich bekenne, zaghaft, zuweilen kritische Gedanken, wenn schon nicht geäußert, so eben deshalb nur gehegt zu haben, ja, daß ich neulich sogar japanisch geträumt habe, was wohl damit zusam­menhängt, daß ich mich instinktiv der Überwachung  meiner  Gespräche  und Gedanken zu entziehen versuchen wollte.

  Das ist gewiß schlimm, und ich muß Sie nun bitten, mir in Ihrer Eigenschaft als Bundesinnenminister behilflich zu sein und meiner wachsenden Angst, meinen Zweifeln und deutlichen Ver­zagtheiten ein Ende zu bereiten. Schwer lastet auf mir die Unsicherheit und ein schlechtes Gewissen wohl auch. Schon daß ich Literatur gelesen habe, die längst hätte verboten werden müssen — Diderot und Rousseau, Chamfort, Schil­ler und Seume, ganz zu schweigen von Goethes „Götz von Berlichingen“, dem Drama, das von Geiselnahme handelt, treibt mir den Angstschweiß auf die ge­furchte Stirn und raubt mir den nach­ mittäglichen Schlaf. Ich muß sogar ge­stehen, Bücher von Heinrich Mann, dar­
unter auch den „Untertan“, noch nicht aus meiner Bibliothek ausgesondert zu
haben. 

  Meine Unsicherheit nimmt ständig zu, kaum weiß ich noch, wie ich denken und mich ferner verhalten soll. Ich bin auch bereit, beides fortan zu unterlas­sen.

  Ich weiß wohl, daß es Ihrer so sehr intensiv beschäftigten Behörde kaum zuzumuten ist, aber ich möchte Sie dennoch aus gepeinigtem Herzen heraus bitten, auch mich, der ich in so heftige Zweifel und in Unsicherheit geraten bin, von jenen Organen, mit welchen die Verfassung sich schützt, überprüfen zu lassen. Es könnte wohl sein, daß ich zu­weilen Gedanken ausgesetzt hin, über deren Gefährlichkeit ich mir noch gar nicht recht im klaren bin. Vielleicht er­fahre ich so, wie man überhaupt allen Gedanken und Bedenken erfolgreich sich verweigern kann.

Ich verspreche mir von einem solchen polit-psychiatrischen Explorationsgespräch, einer möglichen Behandlung und eventuellen Entextremisierung, sollte sie noch Erfolg haben, wesent­lichen Gewinn und innere Festigkeit für meine weitere Tätigkeit im öffentlichen Dienst oder aber, je nach Ergebnis, eine therapeutisch begründete Untätigkeit.

Wenn ich noch hinzufüge, daß ich schon vor gut 33 Jahren einmal in Haft gewesen bin, so werden Sie gewiß Ver­ständnis für meine Sorgen aufzubringen vermögen und in meinen Zeilen die an­tizipierte Reue wie die prophylaktische Zerknirschung nicht verkennen wollen. Es wäre auch kränkend für uns beide, wollten Sie diesen Brief nicht so ernst nehmen, wie er gemeint ist.

In Erwartung Ihrer Hilfe zeichnet mit dem Ausdruck der ständig sich steigern­den Furcht und der sich weiterhin vertiefenden Ehrerbietung vor der sowohl freiheitlich als auch demokratisch intendierten Grundordnung, an der wir gemeinsam versuchen sollten festzuhalten,

Ralph-Rainer Wuthenow
Universität Frankfurt/Main

 

Ralph-Rainer Wuthenow, Professor am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität, gehört zu den hervorragenden Kennern der deutschen und französischen Aufklä­rung.

 

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 10. Januar 1978

 

Anmerkung: Damals hieß der Popanz, der als Vehikel zur Einschränkung der Freiheitsrechte diente, „RAF“ oder „Radikale“. Heute heißt der Popanz „Kampf gegen den Terror“ oder „Kampf der westlichen Wertegemeinschaft gegen die Achse des Bösen“. Allerdings war Werner Maihofer damals ein Waisenknabe gegen Wolfgang Schäuble heute!