Privatissimum für den Verfassungsschutzpräsidenten Geiger

 

Mein alter "Welt"‑Kollege Günter Zehm, zur Zeit Philosophieprofessor in Jena, hat Sie in der Jungen Freiheit als Pankraz am 16. Februar (1996, d. Verf.) ja ganz schön zerzaust. Was Sie in Ihrem Spiegel‑Interview vom 29. Januar quasi als öffentliche Antrittserklärung äußerten, rechtfertigt seine furiose Attacke auf der ganzen Linie. Der Hering beginnt bekanntlich vom Kopf her zu stinken, packte Zehm Sie gleich am Kragen, um Ihnen beim Durchschütteln zu verpassen, was Sie, kein Kopf viel­leicht, aber immerhin Präsident, verlauteten, verströme einen üblen Geruch von Gesinnungsschnüffelei und Polizeistaat.

 

Bei Ihnen sprängen im Visier der 'neuen Rechten', die Sie endlich 'zu fassen kriegen' wollten, 'sämtliche Taschenmesser auf, weil da Ideen transportiert werden, die das Kollektiv, den homogenen Volksstaat als einzig mögliche Form des politischen Gemeinwesens in den Vordergrund stellen und nicht das Individuum', weil da 'Theorien mit antiwestlicher und antidemokratischer Gesinnung vertreten werden, Ethnopluralismus statt multikultureller Gesellschaft, auch das antidemokratische Denken von Carl Schmitt ...' Ob unbescholtene Bürger, die sich an Recht und Gesetz halten, für den ungebremsten Individualismus oder für den Volksstaat seien, ob für Ethnopluralismus oder Multikulti, für Karl Marx oder Schmitt, das ginge Leute wie Sie, kommentierte Zehm Ihre Knackpunkte, 'einen feuchten Kehricht' an; keinen Unterschied sähe er mehr zum Stasi der DDR ...

 

Sie tun mir wirklich leid. Dabei ist Günter Zehm mit aller Drastik in seiner eingefleischten sächsischen Courtoisie (d.i.: ritterliche Höflichkeit, d. Verf.) noch nicht einmal aufs Ganze gegangen. Das will ich ostelbisch direkt nun gerne nachholen.

 

Mensch Geiger, wie wollen Sie die denn alle zu fassen kriegen? 'Man sollte nicht naiv sein', sagten Sie im Spiegel. Aber Sie selbst scheinen mir mehr als gehörig naiv zu sein. Der Verfassungsschutz und die Abteilungen der Staatspolizei hätten sich immer damit gebrüstet, von jedem Schritt der sogenannten Rechten rechtzeitig aus den Führungen informiert zu werden, zu denen sie einen direkten Zugang hätten. Diese Zeiten sind vorbei. Weil jene Parteien, wie triumphierend festgestellt wird, zu absoluter Bedeutungslosigkeit herabgesunken sind, ist der zu nichts mehr nütze. Alle neuen Ansätze bilden sich heute außerhalb von Organisationen heran, in zahllosen Freundeskreisen und Gesprächsrunden, unter vier Augen. Und hierzu haben Sie keinen Zugang. Sie müßten da erst wieder Agenten einschleusen, viele Agenten.

 

Es handelt sich ja auch beileibe nicht bloß um die sogenannten Rechten. Was Ihnen so entlarvenswürdig und straffällig erscheint, findet sich in beachtlicher Fülle gleichfalls mehr oder weniger offen, meistens deskriptiv, aber hier und da auch analytisch, in den etablierten Zeitungen. Ich weise Sie hier nur auf eine Abfolge von Leitartikeln in der Süddeutschen Zeitung hin, auf "Regierungskrise - vertagt auf 1996" von Martin E. Süskind (9.12.95), "Deutsche Schizophrenie" von Gernot Sittner (27.1.96), "Die Zerstörung des Standorts D" von Heribert Prantl (24.2.96) und "Deutschland vor der Wende" von Martin E. Süskind (9.3.96), aus denen in steigender Dramatik hervorgeht, daß Bonn den über uns hereinbrechenden Krisen weder personell noch institutionell gewachsen ist. Kann eine Verfasssung geschützt werden, die nicht mehr funktioniert, die ständig ausgehebelt wird? Zur Charakterisierung des Kanzlers (Kohl, d. Verf.) und seines Amtes müsse man schon auf vorkonstitutionelle Begriffe (Sultanismus) zurückgreifen, merkte der emeritierte Politologe Wilhelm Hennis in der SZ vom 11. März am Rande einer Rezension, ("Bericht aus Bonn") an. Auch in diesen Bereichen müßten Sie Agenten einschleusen. Sie brauchen nicht nur viele, Sie brauchen sehr viele.

 

Die Leserbriefe gehen noch viel weiter. Wie weit die Leserbriefe gehen, die keine Zeitung zu veröffentlichen wagt, kann man nur abschätzen, aber ziemlich sicher abschätzen; mich erreichen gelegentlich Kopien. Die Masse der systemkritischen bis systemfeindlichen Bürger wächst rapid. Die meisten von ihnen kennen weder Personen noch Periodika der sogenannten Rechten. Wo wollen Sie da ansetzen? Sie brauchen ungeheuer viele Agenten. Neben Ihrer professionellen Truppe brauchen Sie ganze Freikorps von Geheimstilisten, Spitzeln, von Vigilanten, Observanten, Denunzianten, Informanten. Sie hätten mehr IMs nötig, als sie die DDR je hatte. Ob es dienlich wäre, bezweifle ich. Es entstünden Aktenberge, höher noch als die Materialhalden, unter denen der Staatssicherheitsdienst am Ende handlungsunfähig wurde.

 

Nur wenige wären überdies qualifiziert. Schon der real existierende Verfassungsschutz ist nicht mehr das, was er war. Ich kann das beurteilen, weil ich in den Jahren mit Ihrem Vorgänger, Günther Nollau, gelegentliche, nicht strategische, sondern kollegiale Gespräche führte: wir waren beide Mitarbeiter an der Zeitschrift 'Deutschland Archiv'. Was mir jüngst in einer Verfassungsschutzbroschüre zustieß ‑ die Einordnung meiner 'Staatsbriefe' unter 'Revisionismus' mit Argumenten, die, willkürlich und verfälschend, unter aller Sau sind ‑, wäre damals, als ich die Einstellung der lächerlichen Observation eines Schweizer Linken erreichte, undenkbar gewesen.

 

Ich kann mir nicht vorstellen, daß das ein Ausrutscher war. Das war der Durchschnitt! Geben Sie Ihre hochfliegenden Pläne auf, Herr Geiger! Sie sind nicht nur sinnlos, sie würden von einer bestimmten Erfassungsbreite an nur böses Blut zum Kochen bringen.

 

Quelle: Hans-Dietrich Sander in dem Aufsatz "Die Staatsbriefe als Opfer der Patriotenverfolgung"