Stimme
des Volkes
Aufruf ! Aus eigener Erfahrung mit der Diktatur
in der DDR,
aus guter Erinnerung
an politischen Druck und Widerstehen,
an Volksverdummung und Wahrhaftigkeit,
an hohle Phrasen und aufsässige Verse,
an militaristisches Gehabe und grundsätzliche Gewaltlosigkeit,
an Bevormundung und Solidarität
und aus jüngster Erfahrung mit der
parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik
wenden wir uns nicht an den Bundeskanzler,
nicht an Rot‑Grün, nicht an die Oppositionsparteien,
sondern an Euch, einfache Bürger wie wir:
"Die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft ist offensichtlich
gestört."
Das war 1989 so. Und das gilt heute wieder.
Wir fühlen uns in wachsendem
Maße ohnmächtig gegenüber wirtschaftlichen, militärischen und politischen Strukturen,
die für Machtgewinn und Profit unsere Interessen in lebenswichtigen Fragen
einfach ignorieren.
Wir fühlen uns in unserer
Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen unseres Landes und der Welt mehr
und mehr an die uns wohlbekannten Übel der Diktatur erinnert.
So können wir uns zwar alle
vier Jahre bei den Wahlen für eine von vielen streitenden Parteien entscheiden.
Wir stellen jedoch fest, daß die Programme dieser Parteien mit der Politik, die
sie dann tatsächlich machen, kaum etwas zu tun haben.
Die politischen Losungen in
der DDR waren selten lustig, sie werden in ihrer Hohlheit von den Wahlwerbungen
der Parteien heute übertroffen.
Wir haben uns über das
Abstimmverhalten der Volkskammerabgeordneten amüsiert. Angesichts des
Abstimmverhaltens der Bundestagsabgeordneten ist uns das Lachen vergangen.
Wir haben es gelernt, hohle
Phrasen und den sinnverkehrenden Gebrauch von Schlagworten zu erkennen und
schadlos an uns abperlen zu lassen:
Früher: Ewige Waffenbrüderschaft; Unverbrüchliche Solidarität;
Friedensdienst (mit der Waffe in der Hand); Erz für den Frieden (gemeint war
das Uran der WISMUT für die russischen Atombomben); Mein Arbeitsplatz ‑ mein
Kampfplatz für den Frieden; Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!
Heute: Kreuzzug gegen das Böse; Ewige Freiheit; Grenzenlose
Gerechtigkeit; Uneingeschränkte Solidarität; Geschlossenheit; Wer nicht für uns
ist, ist für die Terroristen!
Wir haben in der Revolution
von 1989 Kopf und Kragen riskiert, um das verhaßte und verachtete System von Bütteln
und Spitzeln in der DDR zu überwinden.
Wir hatten erwartet, daß nach
dem Ende des Kalten Krieges auch die westlichen Geheimdienste abrüsten. Keiner
von uns hat jedoch damit gerechnet, daß nach Beendigung des Kalten Krieges die
Telephonabhöraktivitäten steil ansteigen, daß die von uns abgerissenen Stasi-Videokameras
nur durch neue ersetzt werden.
Wir sind entsetzt darüber, daß
heute die Polizei zusammengestrichen und der Geheimdienst aufgeblasen wird. War
denn alles umsonst? Wir wissen, wohin so was führt.
Keiner von uns hat damit
gerechnet, daß ein schrecklicher Terroranschlag in den USA zum Anlaß genommen
werden könnte, scheinbar unumstößliche Maßstäbe von Recht und
Gerechtigkeitsgefühl in der ganzen westlichen Welt ins Rutschen zu bringen.
Wir haben nicht vergessen, wie
die Gummiparagraphen des politischen Strafrechts der DDR uns die Luft
abgeschnürt haben.
Wir greifen uns jetzt an den
Hals, wenn wir lesen, mit welcher Leichtfertigkeit das Terrorismus‑Bekämpfungsgesetz
(der sogenannte Otto‑Katalog) des Innenministers und die entsprechenden
Entwürfe in anderen westlichen Staaten und auf europäischer Ebene Gummistricke
drehen, die wir glücklich losgeworden zu sein gehofft hatten.
Wir sind verblüfft und
entsetzt, daß unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit mit höhnischem Gelächter und
dem süffisanten Verweis auf den Rechtsstaat beantwortet wird.
Wir sind entsetzt, wie
selbstverständlich von hochrangigen Politikern gebilligt wird, daß die
vermeintlichen Anstifter des Terroranschlags mit einer grotesk übermächtigen
Militärmaschinerie umgelegt werden. Beweise für ihre Schuld? Geheim und wohl
doch auch überflüssig! Haben deutsche Politiker bereits die amerikanische
Begeisterung für die Todesstrafe übernommen?
Wir sind entsetzt, mit welcher
Dumpfbackigkeit Gegnern des Kriegseinsatzes in Afghanistan entgegengehalten
wird, daß Krieg gegen Terroristen helfen kann.
Weshalb traut sich niemand an
die Waffenhändler in den USA und in der Bundesrepublik heran?
Weshalb versuchen die USA mit
allen Mitteln, die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs zu
verhindern?
Natürlich wollen wir, daß ein unabhängiges Gericht und nicht der
Oberbefehlshaber der stärksten Armee der Weit entscheidet, ob die vorgelegten
Beweise eine Verurteilung der vermeintlichen Hintermänner des Terroranschlags
rechtfertigen.
Wir sind entsetzt darüber, daß
ganz nebenbei schon die Diskussion um die Anwendung der Folter salonfähig wird.
Sind die Mächtigen in den westlichen Staaten nicht auf dem besten Wege,
Verhaltensweise, Denkstruktur und Wertesystem einer Terroristenbande
anzunehmen?
Wir haben es einfach satt.
Wir haben es satt, daß unter
dem Banner von Freiheit und Demokratie gegen unsere Interessen regiert wird.
Wir haben es satt, uns für
dumm verkaufen zu lassen.
Wir haben es satt, uns das
platte Geschwätz auf Parteitagen anzutun.
Wir haben Volksvertreter satt,
die unsere Interessen nicht vertreten und das auch noch als Erfolg feiern.
Wir haben einen Bundeskanzler
satt, der um der Macht willen Abgeordnete dazu bringt, ja zum Krieg zu sagen,
wenn sie nein meinen, und nein zu sagen, wenn sie ja meinen.
Wir machen nicht mit, wenn
Kriegseinsätze mit Worthülsen wie »Verantwortung übernehmen«, »der neuen Rolle Deutschlands
in der Welt«, mit »Politikfähigkeit« und »der Durchsetzung der Rechte der
Frauen« verharmlost werden.
Wir verweigern uns diesem Krieg.
Nur eine Diktatur braucht
linientreue Parteisoldaten. Demokratie braucht mündige Bürger. Lassen wir
Medien, Parteien, Kultur und Wissenschaft nicht von röhrenden Funktionären gleichschalten.
Die erbärmlichen und
erschreckenden Umstände der Rot-Grünen Entscheidung für den Krieg lassen
keinen Raum mehr für parteitaktische Spielchen, für die Sorge um den eigenen
warmen Arsch.
Machen wir endlich den Mund auf!
Reden wir mit unseren Kindern
und mit unseren Eltern über diesen Krieg, über Gerechtigkeit in Deutschland und
der Welt und über die Rechtsstaatlichkeit, die uns zwischen den Fingern zu
zerrinnen droht!
Wir haben 1989 gelernt, daß es Sinn hat, zu widersprechen.
Berlin,
den 13. Dezember 2001
Sebastian Pflugbeil, Wolfgang
Ullmann, H.J. Tschiche u.a.
Quelle: "Unabhängige Nachrichten", Postfach 400 215, 44736
Bochum