Sozi-Meinungskampf mit harten Bandagen
Der
Kläger ist Oberstudiendirektor im Dienst des Beklagten (Land
Nordrhein-Westfalen). Er ist seit 1973 Schulleiter des A.‑Gymnisiums in
K. Im Jahre 1985 veröffentlichten drei Lehrer dieses Gymnasiums ein Buch mit
dem Titel "Ich bin katholisch getauft und Arier". Dieses Buch
behandelt die Geschichte des Gymnasiums in der Zeit des Nationalsozialismus,
insbesondere die Situation jüdischer Schüler. Im Zusammenhang mit der
Veröffentlichung des Buches erhoben die Autoren u.a. den Vorwurf gegen den
Kläger, er habe sie bei der Erstellung des Buches behindert. Diese Vorwürfe
waren auch Gegenstand der Berichterstattung in Presse und Fernsehen. Der
Kläger forderte daraufhin vom Regierungspräsidenten geeignete Maßnahmen zu
seinem Schutz vor den Angriffen und Beleidigungen. Das Begehren war Gegenstand
eines gerichtlichen Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht. Das Verfahren wurde durch
übereinstimmende Erledigungserklärungen beendet. Die Einleitung eines Disziplinarverfahrens,
das der Kläger gegen sich selbst beantragt hatte, wurde vom Regierungspräsidenten
abgelehnt mit der Feststellung, gegen den Kläger bestehe kein Verdacht eines
Dienstvergehens. Am 19. 3. 1988 hielt der Kultusminister des beklagten Landes
vor den Teilnehmern der 5. Landeskonferenz der Arbeitsgemeinschaft verfolgter
Sozialdemokraten eine Rede zum Thema "Gewährleisten unsere Schulen heutzutage
die demokratische Erziehung unserer Kinder?". Er führte u.a. aus.:
"Zur demokratischen
Erziehung unserer Schüler tragen auch die Bemühungen an einzelnen Schulen bei,
die eigene Schulgeschichte für die Zeit des Nationalsozialismus aufzuarbeiten.
In vielen Fällen bezieht man in diese Forschungen auch Aspekte der
Nachkriegszeit ein: d.h. wie ist eine Schule nach 1945 mit ihrer Vergangenheit
umgegangen? Auf diesem Gebiet gibt es noch immer Tabus: Was drei Lehrer eines
Gymnasiums an Diffamierung und Isolation erlitten haben, das ist schon ein
Skandal. Der WDR und die Lokalzeitungen haben sich bereits mehrfach mit der
Reaktion der dortigen Schulöffentlichkeit beschäftigt. Der springende Punkt
dieser Auseinandersetzung ist wohl die Feststellung der Autoren, daß an ihrer
Schule nach dem Krieg eine Lebenslüge aufgebaut und gepflegt wurde: Eine
Lebenslüge, die das Verhältnis zwischen
Christentum und Nationalsozialismus betrifft", nämlich als ob die christliche
Prägung diese Schule immer schon gegen die Anfechtung des Nationalsozialismus
immun gemacht habe. Die Autoren weisen dagegen nach, daß jüdischen Schülern der
Verbleib an dieser Schule schon bald nach 1933 erheblich erschwert bis unmöglich
gemacht wurde. Offensichtlich spielte der vorauseilende Gehorsam hier wie
anderswo eine große Rolle. Der nationalsozialistische Geist durchwehte diese
Schule in der damals leider üblichen Normalität, allenfalls aufgehalten durch
zwei oder drei mutige Lehrer, die nicht die gesamte Schule repräsentieren. Das
Schlimme ist, daß es heutzutage immer noch gelingt, Autoren, die sich nun wirklich
Verdienste erworben haben, als Brunnenvergifter und Nestbeschmutzer auszugrenzen.
Das Muster ist hinreichend bekannt: Die Autoritäten in der Schule pflegen eine Mentalität
der Verdrängung, und sie tun so, also seien sie von ein paar Heißspornen tödlich
beleidigt worden. Das alles wäre eher grotesk als ernst zu nehmen, wenn man es
nicht als einen weiteren Hinweis auf fließende Grenzen und Grauzonen zwischen konservativ‑autoritärem
und rechtsgerichtetem Denken werten müßte. Gott sei Dank gibt es an unseren
Schulen auch andere, d.h. positive Erfahrungen für Lehrer und Schüler, die den
Lebenslügen in der Vergangenheitsbewältigung auf der Spur sind, auch und gerade
hier in K."
Der Kläger forderte zunächst
den Regierungspräsidenten, dann den Kultusminister des beklagten Landes auf,
eine Erklärung dahin abzugeben, daß er (der Kläger) sich an einer Diffamierung
oder Isolation der drei Autoren des Buches "Ich bin katholisch getauft und
Arier" nicht beteiligt habe, daß er bei der Behandlung des Buches nicht
eine Mentalität der Verdrängung gepflegt habe und daß sein Verhalten nicht als
Hinweis auf fließende Grenzen und Grauzonen zwischen konservativ‑autoritärem
und rechtsgerichterem Denken zu werten sei. Er begehrte außerdem, diese
Erklärung den Hörern des Vortrags des Kultusministers in geeigneter Form zur
Kenntnis zu bringen. Die Abgabe einer solchen Erklärung lehnte der
Kultusminister ab. Der vom Kläger eingelegte Widerspruch wurde nicht beschieden.
Die Klage, mit der der Kläger beantragte, den Beklagten entsprechend dem
vorgenannten Antrag zu verpflichten, hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Das
Oberverwaltungsgericht (Münster) hat die Berufung des Kl. zurückgewiesen.
Die Revision war erfolgreich.
Quelle: Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29.6.1995 in der
Bearbeitung der NJW 1996, S. 210 ff (hier nur aus dem Sachverhalt/Tatbestand -
S. 210)
In den Entscheidungsgründen heißt es u.a., daß es weder dem Beamten noch
den Vorgesetzten zusteht, über die Amtsführung des Beamten einen nach außen
getragenen Meinungskampf gegeneinander zu führen. Dementsprechend haben das
Bundesverwaltungsgericht und die Disziplinargerichte der Länder in ständiger
Rechtsprechung eine "Flucht des Beamten in die Öffentlichkeit" im
Falle innerdienstlicher Meinungsverschiedenheiten mit Vorgesetzten als Verstoß
gegen die dem Dienstherrn geschuldete Loyalität und gegebenenfalls gegen die
Pflicht zur Amtsverschwiegenheit gewertet (vgl. BVerwGE 76, 79f und 81, 369f;).
Während der letzten Legislaturperiode in Schleswig-Holstein hatte es sich
der Leitende Oberstaatsanwalt Heinrich Wille (Lübeck) angelegen sein lassen,
sowohl die angebliche personelle Unterbesetzung seiner Behörde (die übrigen
drei Staatsanwaltschaften im Lande erledigten vergleichbare Pensen
reibungslos), als auch den politisch von der Landesregierung entschiedenen
Verzicht auf geschlossene Jugendheime mehrfach großformatig in den
"Lübecker Nachrichten" (etwa 110.000 Auflage) ungewöhnlich heftig zu
kritisieren, was deutlich als Auseinandersetzung mit der Justizministerin und
stellvertretenden Ministerpräsidentin Anne Lütkes (Bündnis 90/DIE GRÜNEN)
wahrzunehmen war. Danach war dann von einem "Maulkorb" für Heinrich
Wille die Rede, der dann allerdings wieder aufgehoben worden sei.
Nun meine Frage an die amtierende Landesregierung: Ist dem
Justizministerium die ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und
der Dienstgerichte der Länder unbekannt oder gleichgültig? Oder haben die
skandalösen Vorgänge z.B. um Dr. Günter Semmerow und den Hafenstraßen-Prozeß zu
einer Situation der Erpressbarkeit der damaligen Landesregierung geführt?