Mut zum "Sitzenbleiben"
Ein Plädoyer gegen die weitere Ideologisierung
unseres Schulsystems
Seit vielen Generationen ist
die "Ehrenrunde" Teil schulischer Realität. Ab den siebziger Jahren
wurde sie zur Streitsache. Jetzt wird erneut gefordert, die Wiederholerquote zu
senken, mancher fordert im Zuge seiner Abiturvollkaskovorstellungen gar eine
gänzliche Abschaffung des "Durchfallens". Bei soviel Verve ist
Realitätssinn vonnöten. Wenn 250.000 Schüler pro Jahr "durchfallen",
dann ist dies eine stolze Zahl. Sie relativiert sich aber, wenn man
berücksichtigt, daß nur zwei Drittel der Durchfaller ein Jahr wiederholen und
sich ein gutes Drittel dem durch einen Wechsel an eine andere Schulform
entzieht. Zudem relativieren sich die 250.000, wenn man sie in Beziehung zur
Gesamtschülerschaft setzt: Dann sind es von 12,3 Millionen Schülern recht exakt
zwei Prozent. Im übrigen: Im Vergleich etwa mit den Franzosen könnten sich die
Deutschen ruhig zurücklehnen. Dort nämlich schlägt bei siebzig Prozent aller
Schüler eine "Ehrenrunde" im Verlauf ihrer Schullaufbahn zu Buche.
Wichtiger als die nackte Zahl
ist eine Analyse der Gründe des Sitzenbleibens. Diesbezüglich lassen sich vier
Typen erkennen. Jeder davon hat eine eigene Schulvita; und für jeden stellt
sich die Frage nach dem Für und Wider des Wiederholens einer Klasse anders.
Da gibt es die "Fähigen
aber allzu Coolen". Sie könnten, aber wollen nicht. Diesen Schülern
(überwiegend männlich) ist die Schule eine Zeitlang schnuppe, alles andere ‑
von den Medien bis zum anderen Geschlecht ‑ ist wichtiger. Sie erleben
das Durchfallen nicht als narzißtische Kränkung, eher als sportliche
Niederlage. Sorge machen diese Schüler nicht, solange das Durchfallen die
Alarmglocken schrillen läßt und in der Wiederholungsklasse genug getan wird,
die Lücken zu schließen. Die Durchfallerquote dieses Typs zu reduzieren, dürfte
schwer sein: Ihm helfen weder liberale Regeln, weil er diese für sich dann noch
weiter ausdehnt, noch ein Wechsel an eine andere Schulform, weil er sich dort
womöglich noch mehr ausruht; und es helfen ihm keine Förderkurse, weil er in
diese "cool wie eh und je" startet. Helfen kann hier allenfalls die
Klugheit, die aus Erfahrung kommt.
Dann gibt es die
"Fähigen, aber Blockierten". Sie könnten, möchten auch, aber
psychische oder gesundheitliche Probleme, besondere Lebensumstände, etwa ein
naher Todesfall, die Scheidung der Eltern oder ein Umzug zwischen zwei
Bundesländern, hindern sie daran, in der Schule besser zu sein. Das Durchfallen
ist für diese Schüler oft eine Niederlage, die als Ungerechtigkeit empfunden
wird.
Solchen Schülern sollte man
das Vorrücken auf Probe zugestehen können, falls die Noten nicht zugleich in
mehreren Kernfächern ins Bodenlose gefallen sind. Hier wäre mehr möglich, wenn
die Schulen solchen Schülern zudem mit Förderkursen unter die Arme greifen
könnten.
Eine weitere Gruppe sind die
in ihrer Entwicklung verzögerten jungen Menschen, die durchaus fähig sind, eine
bestimmte Schullaufbahn einzuschlagen, aber noch Zeit brauchen: die
"Spätstarter". Diesen Schülern wird man im Falle des Sitzenbleibens
das Wiederholen einer Klasse an derselben Schulform empfehlen, nicht aber den
Wechsel an eine andere. Im Wiederholen liegt hier eine Chance, ein Hinaufhieven
in die nächste Klasse bringt für sie wenig, denn die Rückstände kumulieren
dann.
Und schließlich gibt es die
Gruppe der "Überforderten". Sie haben mehrere Fünfen und Sechsen in
zentralen Fächern. Ihnen helfen keine liberalen Versetzungsbestimmungen, auch
keine gutgemeinten Förderkurse. Solche Schüler sind am besten aufgehoben an
einer Schulform, die ihnen etwas weniger Fremdsprachen oder eine weniger
abstrakte Mathematik und Physik abverlangt. Dort angekommen, verbessern sie
ihre Noten oft um zwei bis drei Stufen.
Angesichts dieser vier Typen
geht es also nicht mehr um die bloße Beibehaltung des Durchfallens oder dessen
Abschaffung. Es geht um etwas anderes, nämlich im Einzelfall zu klären, ob eine
Klassenwiederholung hilfreich ist. Und schließlich geht es um die Frage, wie
ein drohendes Sitzenbleiben präventiv aufgefangen werden kann. Manche dieser
"Karrieren" ließe sich vermeiden, wenn man gewisse Zeichen seitens
der Schüler, Eltern und Lehrer rechtzeitig zu deuten wüßte und wenn die Kinder
auf die für sie geeignete Schullaufbahn einschwenkten. Darüber hinaus wären die
Schulen imstande, die Sitzenbleiberquote zu senken, wenn man ihnen ein Stunden‑Quantum
gäbe, mit dem sie gezielt schwächere Schüler fördern könnten.
Alles in allem: Die
Durchfallerquote läßt sich senken, vermutlich halbieren, wenn man die
skizzierten Möglichkeiten in Angriff nähme. Ansonsten ist ein Sitzenbleiben
kein Stigma für ein ganzes Leben. Man kann es damit ‑ wie prominente
Beispiele beweisen ‑ in höchste Ränge der Politik und der Wirtschaft
bringen. Immerhin hat das Rheinisch-Westfälische Institut für
Wirtschaftsforschung (RWI) erst 2005 in einer Untersuchung von 2.500 ehemaligen
Schülern festgestellt, daß die meisten Schüler von einer Ehrenrunde
profitieren. JOSEF
KRAUS
Josef Kraus ist Präsident des Deutschen Lehrerverbandes und
Autor des Buches "Der Pisa-Schwindel". Internet: www.lehrerverband.de
Quelle: JUNGE FREIHEIT vom 16.6.2006