Selbstverständnis der CDU

 

Wie ein Fürst verteilte Helmut Kohl Posten und "Bimbes". Gesetzesverstöße tut er lapidar als Fehler ab. Dass er dafür bei seinen Getreuen Applaus erntet, wirft Fragen nach dem Selbstverständnis der CDU auf.

 

Dem Zentralkomitee der Katholiken blieb es vorbehalten, eine gespenstische Parallele zu ziehen: Die Vorkommnisse in der und um die CDU erinnerten dessen Präsidenten Hans Joachim Meyer an die Praxis der SED, die ihre Interessen mit denen des Staates und die der Partei mit denen ihrer führenden Repräsentanten gleichsetzte. Recht und Gesetz waren da zweitrangig, selbst wenn man dies selbst verfasst hatte.

 

Jedoch ausgerechnet Lothar Bisky, heutiger Chef der SED-­Erbengemeinschaft namens PDS, blieb es dann vorbehalten, die Vorzüge der parlamentarischen Demokratie zu preisen, in der nun alles ans Tageslicht komme: "Das hätte es in der DDR nicht gegeben." Der Katholikenchef brandmarkt das Treiben der Christlich‑Demokratischen-Union, der Sozialistenchef lobt die westliche Demokratie ‑ da ist wirklich einiges durcheinander geraten in den nicht enden wollenden Wochen der Wahrheit und der immer neuen und unglaublicheren Enthüllungen.

 

Dass solche bis vor kurzem noch absurd erscheinenden Vergleiche angestellt werden, hat Gründe, die sowohl die distanzierten Beobachter des "Wall Street Journal" als auch Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer in den langen Jahren des Kalten Krieges sehen.

 

Den hatten in der Tat sowohl die SED auf ihre diktatorische als auch Helmut Kohl und seine Brüder im Geiste auf ihre jovial­demokratische ‑ oder muss man sagen: Schein‑demokratische? ‑ Weise verinnerlicht. Die SED witterte im Westen das, was Ronald Reagan in der Sowjetunion erblickte: das "Reich des Bösen". Um im Kampf dagegen siegreich bleiben zu können, schienen so ziemlich alle Mittel erlaubt: Legal, illegal, scheißegal. Was zählte, waren Ergebnisse im Kampf der Systeme.

 

Im anderen Lager dachte man ähnlich. Der Gedanke, dass die Sozialdemokratie, die "Linke" überhaupt, der Untergang des Vaterlandes sei, trieb die deutsche Rechte schon zu Bismarcks Zeiten um, der vergeblich versuchte, dieses "Problem" durch Verbote und Verfolgung zu beseitigen. Er steigerte sich in den Hasstiraden um die "Dolchstoßlegende" nach dem Ersten Weltkrieg und fand einen grausamen Höhepunkt in Hitlers Reich mit seinen KZs und seinen vielen willigen Vollstreckern.

 

Danach kam dann der Neuanfang. Die bürgerlich‑nationale Rechte sammelte sich nun schnell in der CDU, die es schaffte, diese in den mit alliierter Geburtshilfe gegründeten zumindest formal demokratischen Staat zu integrieren. Die Rhetorik aber blieb nicht selten kriegerisch fast wie zu Bismarcks Zeiten.

 

Auch der alte Adenauer war nicht zimperlich, wenn es galt, die Sozialdemokraten und den Untergang des Abendlandes, zumindest aber den Fortbestand der Bundesrepublik Deutschlands, in einem Atemzug zu nennen. Faire demokratische Auseinandersetzung, der Gedanke gar, es könne dabei zu einem Wechsel der Macht an das linksliberale Lager kommen ‑ er war der Union zutiefst fremd, so sehr fühlte sie sich eins mit ihrem Staat.

 

Als sie nach 20 Jahren Dauerherrschaft tatsächlich die Regierungsbank räumen musste, weil die Liberalen die Fahne wechselten, da empfand sie dies als einen bösen Irrtum, der unbedingt zu korrigieren war ‑ da muss es fast schon als Ironie gelten, dass die ideologisch ebenso festgezurrte Konkurrenz jenseits der Mauer mit ihrer Art von Landschaftspflege der Regierung Brandt das parlamentarische Patt ermöglichte, an dem Barzel dann scheiterte und das somit den Beginn der Ära Kohl einläutete. Dessen Weltbild war seit seinen Tagen in der Jungen Union eindeutig und entsprach dem, was in den 50er Jahren auf den Wahlplakaten der CDU zu lesen war: Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau, und für ihn war die Partei der von ihm verachteten "Sozen" immer nur eine nicht wirklich geläuterte Spielart des Marxismus.

 

So kann es kaum verwundern, dass die als Moskaus Fünfte Kolonne gebrandmarkte Sozen­Partei unter allen Umständen von der Macht am Rhein fernzuhalten war. Das System Kohl hatte dann die Aufgabe, Gleichgesinnte im Kampf gegen das Reich des Bösen innerhalb und außerhalb Deutschlands auf allen Entscheidungs‑Ebenen der Partei zu installieren. Das konnte durch die berühmten Anrufe im Ortsverein erfolgen, durch Wegbeißen der Kritiker, die an diesem System rütteln und auf demokratische Strukturen innerhalb einer modernen Volkspartei pochen wollten. Was war in diesem ewigen Kampf schon der Griff in schwarze Kassen, wenn es galt, die richtigen Bataillone zu stärken?

 

Wie ein moderner Lehnsherr vergab der Fürst Posten, Positionen und bei Bedarf, so muss man nun vermuten, auch schon mal Bimbes ‑ und im Gegenzug gab es die zur rechten Zeit erhobene Stimmkarte auf einem kritischen Parteitag wie dem von 1989, als Helmut Kohl den ihm zu frech gewordenen "geschäftsführenden Vorsitzenden" Heiner Geißler kurzerhand seines Amtes gleichsam enthob und die letzten Reste der gegnerischen Truppen in den eigenen Reihen davonjagte.

 

Wie ein mittelalterlicher Fürst glaubte sich Helmut Kohl offenbar zu ewiger Herrschaft berufen, am Ende hielt er sich schon für unfehlbar, auch wenn er die Verfassung, auf die er fünfmal seinen Kanzler‑Eid schwor, brach und die Gesetze, die er zu schützen versprach, verletzte. "Ein Fehler", meinte er zuletzt wieder bei seinem leicht gespenstischen Auftritt in Bremen ‑ ein Fehler aber, den er über Jahre munter praktizierte und den er jetzt gern hinter seiner historischen Leistung als Einheitskanzler verschwinden lassen möchte. Wer so Wichtiges wie die Einheit zu bewältigen hat, so seine Botschaft, kann sich nicht noch immer brav an die Vorschriften halten.

 

Wobei ihm vielleicht die zeitliche Abfolge etwas durcheinander geraten ist: Die schwarzen Konten benutzte er schließlich auch noch etliche Jahre nach dem gewiss schwierigen Einigungsprozess.

 

Was zu denken gibt, ist die Tatsache, dass sich Helmut Kohl dafür bejubeln lassen und feurige "Helmut‑halte‑durch"­-Rufe ernten kann ‑ der Rechtsstaatsgedanke scheint sich bei seinem An­hang auch nach 50 Jahren Bundesrepublik noch nicht all­ zu sehr verfestigt zu haben.

 

Kein Wunder, dass sich die CDU so schwer damit tut, den "Bimbeskanzler" zur Rechenschaft zu ziehen oder gar in die Wüste zu schicken ‑ sie zertrümmert damit einen der Eckpfeiler ihres langjährigen Selbstverständnisses, wonach erlaubt ist, was gefällt. Was wieder Mut macht, ist, dass sich die Mehrzahl der Wähler von derlei abwendet.

 

Wobei noch zu klären ist, ob sie sich nur von einer bestimmten Partei oder vom ganzen politischen System verabschieden.

 

Quelle: "Lübecker Nachrichten" vom 23./24.1.2000

 

Anmerkung: Was die Lübecker Verhältnisse anbetrifft, bleibt nachzutragen, daß die CDU-Granden Eckhardt und Anke Eymer - ehemaliges und aktuelles Mitglied des Bundestages der Schwarz-Partei mit Lübecker Wahlkreis - als stramme "Kohlianer" gelten. Deshalb sollte ja auch Dr. Roll - Ministerialdirektor aus Kohls Kanzleramt - Bürgermeister von Lübeck werden.

Was das von Wittler angesprochene gestörte Verhältnis zum Rechtsstaat anbetrifft, sieht es - um der Wahrheit die Ehre zu geben - bei der SPD allerdings annähernd ebenso traurig und desolat aus. August Bebel und Friedrich Ebert drehen sich im Grabe um und Rosa Luxemburg, die Lichtgestalt des 20. Jahrhunderts, behielt recht: "Die Sozialdemokratie ist ein stinkender Kadaver!"