Immer nur den Schmerz der anderen
Zur Diskussion über das
'Zentrum der Vertreibungen' in Berlin: Wie weit muß ein Volk seine Würde
verloren haben, daß es nicht mehr den Anstand hat, zu seiner Geschichte zu
stehen. Wie schrecklich ist das Fühlen eines Volkes, das es nicht wagt, seine
Toten zu beweinen! Deutschlands Regierung und die angeblichen Vertreter seines
Volkes verweigern ihm nach 58 Jahren nach dem ostdeutschen Genozid die Trauer
um Millionen Tote und Vertriebene. Es darf nicht einmal historisch aufgearbeitet
werden, was vor 58 Jahren an Mord, Vergewaltigung, Vertreibung und sonstigem
Elend über ein Drittel des Landes hereinbrach. War das Wüten der Sieger so furchtbar,
daß die Greueltaten unausgesprochen bleiben müssen? Wie Kleinkinder befragen deutsche
Repräsentanten ihre Nachbarn, ob sie erlauben, daß und wie Deutsche ihre Opfer
beklagen. Jene, die für den Massenmord und die Vertreibung im Osten
Deutschlands Mitverwantwortung tragen, sollen ihre Zustimmung geben, wie das
deutsche Volk mit seinen Toten und deren Angehörigen umgeht. Wo bleibt das
Schamgefühl?
Es ist fatal: Die Deutschen
sehen nie den eigenen Schmerz, sondern immer nur den Schmerz anderer. Die
Seelen der Hinterbliebenen (das heißt der Kinder der Vertriebenen), auch jener,
die in der 'Verbannung' geboren wurden, sind zutiefst verletzt, bis heute. Aber
diese Schäden werden verleugnet, denn was nicht sein darf, kann nicht sein. Wo
bleibt die Pietät? Es gab nie eine von Herzen kommende Solidarität mit den
Opfern der Vertreibung aus Ost‑ und Westpreußen, Pommern, Schlesien und
dem Sudetenland; vielmehr wurde Jahrzehntelang gepredigt, wegzuschauen. Es ist
kein Wunder, daß dieses Volk keine Kinder mehr zeugt. Ein Volk, das seine
Vergangenheit leugnet, hat auch keine Zukunft. Dieses Volk verzichtet nicht nur
auf seine Souveränität, sondern kennt auch keine Ehre. Hat die Institution 'Bundesrepublik
Deutschland' eine Regierung und eine Volksvertretung, die 'deutsche' Interessen
wahren ‑ oder nur noch drittklassige Sozialverwalter auf deutschem Boden?
Ich bin stolz und glücklich, Jude zu sein."
Quelle: Victor Zander, Würzburg im FAZ-Leserbrief vom 4.9.2003