Wir springen vom Schiff des Untergangs

 

Im Grunde ahnt unsere so ungeheuer von Verantwortungs-, Rechts‑ und Freiheitscheinbewußtsein erfüllte Anführerschaft, daß sie und ihr Umschweif irgendwie dem Abgrund zusteuern. Sie sitzen in einem riesigen Schiff, es reicht von einem Horizont zum anderen, überall tanzen Lichterketten und Lampions, Feuerwerksraketen zischen in den Himmel, manchmal krachen Explosionen und Maschinengewehre rattern, auf allen Decks ist ein Gedränge von Menschen, die meisten auf der Suche nach Nahrung, Spaß und Spiel, die anderen auf der Flucht, auf vielen tausend Segeln steht überall Nützlichkeitsstreben, Lust- und Machtgier, der Steven wird gebildet von einem bis in die nachtfinsteren Wolken ragenden goldenen Drachen mit dem Namen Priesterreligionen, auf dem Rumpf stehen die Namen Seelenmanipulation, Zinsknechtschaft, Allesvermischung, Korruption, Drogensucht, Herrschaft der Lüge und der Furcht, weitere Namen sind unleserlich. Das Schiff wälzt sich auf Wahn‑ und Neurosenwogen in einer immer schneller werdenden Strömung dahin, längst ohne Steuermann und Steuerruder, was aber fast niemand bemerkt, weil die meisten sich mit der Jagd nach Glück, Geld, Macht und Vergnügen befassen, andere sich betäubt auf dem Boden wälzen oder reglos in Ecken, Blut‑ und Alkohollachen liegen. Der schwefelgelbe Nebel aus dem sich nähernden Abgrund wird immer dichter, er mischt sich mit dem Gifthauch der im Schiff sich mehrenden Leichen und Abfälle, alle Konturen verschwimmen, während Priester verzückt ihren Gott beschwören, Weihrauchkessel schwingen, Spaß‑ und Rauschmittel verteilen oder Waffen, da an verschiedenen Stellen des Schiffs sich immer wieder Unbotmäßige sammeln, die abgeschlachtet werden müssen. Voran schwankt ein halb mit Wasser und Unrat gefülltes Lotsenschiff mit seelischen Leichen als Lotsen, ihre Gesichter sind starr, gezeichnet von Macht‑ und Gewaltgier, die Farbe des Namens auf dem Rumpf des Bootes ist weitgehend abgeblättert, darunter wird sichtbar Jahwehs way of death. Aber nicht alle Insassen des führerlos gewordenen, nur noch dahintreibenden Schiffs bilden sich ein, daß ihr Gefährt nicht in den Abgrund schwimmt, sondern bergauf, zu lichten Fortschrittshöhen, wenn sie sich und besonders ihre Supervernichtungswaffenfreunde gegenseitig an den Händen festhalten, lobhudeln, sich politische Korrektheit, Solidarität im Kampf für Demokratie bescheinigen, Tränen des Mitleids für ihre Opfer vergießen, wie jetzt wieder nach den Terrorakten in den USA, und in EUs, UNOs, NATOs und sonstigen Unionen, Bastionen, Bruderschaften, Beziehungszirkeln und Konkubinaten zusammenketten.

 

Wir, die wir längst aus dem "Schiff des Untergangs" ausgestiegen sind, sind jedoch guten Mutes. Überall dräut es. Immer mehr Menschen springen aus dem Schiff, versuchen ans rettende Ufer zu gelangen, vielen gelingt das, manche ertrinken dabei. An den Ufern leben schon ganze Scharen. Sie gehen nicht mehr zu den Wahlen, wollen keine richtigen Kriege, auch keine Bürgerkriege mehr führen, treten aus Kirchen, Parteien und Gewerkschaften aus, gründen allerlei Bürgerinitiativen für Lebens‑, Gesundheits‑ und Rechtsschutz, Selbsthilfegruppen, kulturelle Zirkel, treiben ihre Kinder nicht ab, verlassen zunehmend die Städte, bauen eigene Häuser, ziehen sich in ihre Wohnungen, Häuser, Gärten, Nachbarschaften und Vereine: ihre kleinen Trutzburgen zurück, während sie sich in wachsendem Umfang freie eigene Gedanken machen, diese verbreiten, die in den Taschen geballten Fäuste immer öfter herausnehmen und ohne Gewaltanwendung irgendwo Hand anlegen, nämlich nicht mehr, um etwas niederzureißen, sondern um etwas aufzubauen. Aber irgendwie warten noch die meisten. Worauf warten sie? Sie warten auf das Durchstoßen des Betons des "Dunklen Imperiums", bewirkt durch eine neue Elite. Es gibt ein Sprichwort: "Wo die Not am größten, ist Gott [die rettende seelische Kraft] am nächsten." Diese Kraft wächst immer mehr, sie wächst nicht im Lärm, sondern in der Stille, sie erzeugt immer stärkere Wandlungen im Verhalten eines wachsenden Kreises von Menschen, ein zunehmendes Aussteigen aus dem Schiff des Untergangs, und sie ist grenzüberschreitend, macht nicht halt an den alten Grenzen zwischen den Mitgliedern von Kirchen, Sekten, Parteien, Ständen und Staaten, sondern sucht den moralisch Geläuterten, der die wichtigsten, die entscheidenden Grundentscheidungen auf weltanschaulichem und ethischem Gebiet konsequent bei sich selbst vollzogen hat.

 

Quelle: Roland Bohlinger in "Deutsche Freiheit" vom 1.10.2005, S. 4 f