Qualitätspresse
Am
26. Februar 2012 war der 17-jährige Afroamerikaner Trayvon
Martin, der an einer Tankstelle eine Büchse Eistee
und ein Päcklein Kau-Dragées gekauft hatte, auf dem
Weg zum Haus der Freundin seines Vaters in einer Gated
Community in Sandford,
Florida. Der 28-jährige George Zimmerman, der mit
einer 9-Millimeter-Pistole bewaffnete Angehörige einer Nachbarschaftswache,
hielt den jungen Schwarzen für verdächtig und alarmierte telefonisch die
Polizei: «Der Kerl sieht so aus, als ob er nichts Gutes im Schilde führe. Der
ist auf Drogen oder so.» Als Martin zu laufen begann, folgte ihm Zimmerman, verlor ihn aber aus den Augen. Die Polizei wies
den Wachmann an, nichts Weiteres zu tun, er antwortete: «O.k.»
und beendete den Anruf um 19.15 Uhr. Unmittelbar darauf kam es zu einem
heftigen Kampf zwischen den beiden Männern, und dabei erschoss Zimmerman den unbewaffneten Jungen.
Der
Schütze wurde von dem um 19.17 Uhr am Tatort eingetroffenen Streifenmann
festgenommen. Die lokale Polizei untersuchte den Todesfall. Der zuständige
Staatsanwalt befand, Zimmerman habe aus Notwehr
gehandelt, und liess ihn laufen. Einige Wochen
später, nachdem der Fall landesweit bekannt geworden war und eine heftige
Rassismusdebatte ausgelöst hatte, wurden Polizeichef und Staatsanwalt
entlassen. Die vom Gouverneur eingesetzte Sonderstaatsanwältin erhob Anklage
wegen Mordes zweiten Grades. Nach einem fünf Wochen dauernden Prozess wurde Zimmerman am letzten Samstag von einem aus sechs Frauen
bestehenden Geschworenengericht freigesprochen.
«Ein
Schlag ins Gesicht derjenigen, die immer noch an Gerechtigkeit in diesem Lande
glauben.» Diese Worte des Aktivisten Reverend Al Sharpton sprechen für viele Afroamerikaner. Auch in Europa
ist man mehrheitlich empört über die «Amis» mit ihrer Waffengläubigkeit, ihrer
Justiz, ihrem Rassismus. Bezeichnend ein Kommentar im Guardian: «Man soll es
festhalten, dass an diesem Tag, Samstag, dem 13. Juli 2013, es in den USA immer
noch für legal gehalten wird, einen unbewaffneten jungen Mann, der auf dem Weg
vom Laden nach Hause ist, totzuschiessen, weil man
sein Aussehen nicht mag.»
Auch
bei uns herrscht Unverständnis über den Freispruch. Ein finsterer Bürgerwehrler erschiesst einen
unbewaffneten, auf den überall verbreiteten Fotos sehr sympathischen, fröhlichen
Teenager, von dem Präsident Obama gesagt hatte: «Wenn ich einen Sohn hätte,
würde er wie Trayvon aussehen.» Was ist in die
Geschworenen gefahren?
Nun,
sie haben über fünfzig Zeugen und Experten angehört und sind zum Schluss
gekommen, dass die Darstellung des tödlichen Zwischenfalls, die Zimmerman unmittelbar nach dem Vorfall gegenüber der
Polizei abgab, der Wahrheit entsprach: Nachdem er Martin aus den Augen verloren
hatte, ging Zimmerman zurück zu seinem Wagen.
Plötzlich stand Martin hinter ihm. Es folgte ein Wortwechsel, Martin boxte ihm
in Gesicht, so dass er zu Boden fiel. Darauf setzte sich Martin auf Zimmerman und begann, dessen Kopf gegen das Trottoir zu
schlagen. Zimmerman rief um Hilfe, und Martin hielt
ihm den Mund zu. Martin sah die Pistole, die Zimmerman
auf sich trug, und er versuchte, sich ihrer zu bemächtigen. Es kam zum Gerangel
um die Waffe, und Zimmerman schoss Martin aus
nächster Nähe in die Brust. Er war sofort tot.
Eine
der immer noch anonymen Geschworenen berichtete am Montag einem Journalisten
von CNN, sie sei sicher gewesen, dass Zimmerman um
sein Leben gefürchtet habe. Ursprünglich hätten drei der Geschworenen den
Angeklagten freisprechen wollen, zwei wollten auf Totschlag befinden und eine
auf Mord. Die Sechs hätten dann noch einmal alles Beweismaterial und alle
Tonbandaufnahmen der Telefonate (auch Martin hatte während des Vorfalls mit
einer Freundin telefoniert) durchgeackert und seien zum Schluss gekommen, das
Gesetz erlaube kein anderes Verdikt als den Freispruch. Sie dachten stundenlang
über den Fall nach, und als sie dem Weibel ihr Urteil übergaben, hätten sie
alle geweint.
Nach
Aussagen der Geschworenen machte der Hauptermittler Chris Serino
einen tiefen Eindruck auf das Gericht. Man habe ihm als erfahrenem Polizisten zugetraut,
einen Lügner zu erkennen. Serino sagte aus, er glaube
Zimmerman. Auch sei dieser, der sich als hispanic bezeichnet (er hat eine peruanische Mutter), kein
Rassist. Ein einziger Zeuge, John Good, sah den Kampf. Er sagte vor Gericht:
«Ich öffne meine Tür. Ein schwarzer Mann mit einem schwarzen Kapuzenshirt war
auf dem andern, einem Kerl mit einem roten Sweatshirt, der am Boden war und
rief:‚‹Hilfe!› Ich versuchte, ihnen zu sagen, sie sollten aufhören… und dann
hämmerte der Kerl oben einfach Schläge auf den andern Kerl, etwa im Stile von
MMA [mixed martial art –
orientalische Kampfsportart].»
Es
wurde auch bekannt, dass Martin kein schmächtiges Büblein
(1 Meter 83 gross, 72 kg schwer) und kein
Unschuldsengel war. Er nahm Drogen, die Polizei fand bei ihm gestohlene Ware,
und in der Schule war er bekannt als Raufbold.
All
das wissen bei uns die wenigsten. Am Montag fasste 20 Minuten den Fall so
zusammen: «Trayvon Martin war auf dem Weg nach Hause
in Sandford, als er George Zimmerman
über den Weg lief. Das Mitglied einer Bürgerwehr schoss dem schwarzen Teenager
mit einer Pistole in die Brust. Trayvon verblutete.»
Kein Wort von einem Kampf, kein Wort über den Hilferuf Zimmermans.
Also: kaltblütiger Mord, Justizirrtum.
Soweit
die WELTWOCHE
29/2013!