Postfaschistische Normalität

 

Der Fall Hans Schwerte alias Hans Ernst Schneider

 

Daß beim Fall das emeritierten Germanisten Hans Schwerte alias Hans Ernst Schneider (...) kein Schlußstrich gezogen werden könne, wer seit seiner Selbstanzeige allgemeiner Konsens.  Zeitungen und Zeitschrif­ten haben sich seit 1995 immer wieder mit der weltweit Aufsehen erregenden Angelegenheit beschäftigt, einem Fall, der, wie Kerl­ Siegbert Rehberg formuliert hatte, "ungewöhnlich und zugleich doch auch repräsentativ für die Folgen der NS‑Diktatur, bezeich­nend für die deutsche 'Nachkriegsgeschichte' und zudem brisant" sei, vor allem "weil er peinlich nahe rückt, was die Schlußstrichzieher als längst abgetan ausgeben" ("Merkur" 1/1996). An der

Universität Aachen, wo der Germanist Schwerte es einst bis zum Rektor gebracht und wo seine Enttarnung erhebliche Unruhe und Aufregung ausgelöst hatte - dort werde "vertuscht, wo es nur geht", behauptet jedenfalls die Studentin Alexandra Lünskens ("Süddeutsche Zeitung", 8.7.96) ‑, versuchte eine vom nordrhein‑westfälischen Wissenschaftsministerium installierte und naturgemäß hef­tigst umstrittene Kommission, die Hintergründe des Falles aufzuklären (dazu u. a. Hermann Horstkotte im "Rheinischen Merkur" vom 19.4.96; Leserbriefe ebd., 3.5. und 10.5.96). Ludwig Jäger, Theo Buck, Gerd Simon und andere gehen in einem Sonderheft von "Sprache und Literatur" (...) dem Fall nach, bei dem "sehr vieles" letztlich "unaufklärbar"  bleiben werde, wie Hermann Kurzke schreibt ("Frankfurter Allgemeine", 28.10.). Nicht nachzu­weisen sei, daß Schwerte alias Schneider Nutznießer eines Verschwörer‑Netzwerks gewesen sei; unstrittig sei jedoch, daß er bei der NS‑Organisation "Ahnenerbe" eine nicht unwichtige Rolle gespielt habe. Daß die Zwischenbilanz der Kommission, welche sich in der Hauptsache mit Schwerte‑Schneiders erster Lebenshälf­te befasse, auch "einige Ungereimtheiten" enthalte, hebt Hermann Horstkotte hervor ("Die Welt", 10.10.). Seinen 1948 erworbenen Erlanger Doktortitel indes darf der heute 87jährige Germanist nach kontroversem Hin und Her erst einmal behalten. Die Beiträge zum dieser Entscheidung vorangegangenen Symposium vom Februar 1996 mit dem Titel "Ein Germanist und seine Wissenschaft" sind in einer lesenswerten Broschüre der Universität Erlangen‑Nümberg nachzulesen (128 S.; Pressestelle, Schloßplalz 4, D‑91054 Erlan­gen). Zum Fall Schwerte äußern sich Universitätsrektor Gotthard Jasper, Bernd‑A. Rusinek, Joachim Lerchenmüller, Marita Keilson­-Lauritz, Ulrich Wyss und Karl‑Siegbert Rehberg; die Debatte um den Doktortitel, der Schwerte‑Schneider nach dem Willen von Theodor Verweyen, Gunther Witting und anderen aberkennt wer­den sollte, wird ebenfalls dokumentiert.

 

"Hans Schwerte, Marquartstein" legt in einem Leserbrief in der "Frankturter Allgemeinen" (13.11.) seine Sicht der Geschehnisse dar. "Ich verberge oder leugne mein Tun bis 1945 nicht ... Schuld und Scham sind ausgesprochen worden. Was offenzulegen möglich war, ist offengelegt worden". Die Möglichkeit seiner Wandlung innerhalb der letzten 50 Jahre oder die Erfahrung einer Konversion werde ihm abgesprochen, seine "Gegenwendung und Gegenarbeit unterschlagen. Auf die einzig und allein entscheidende Frage, wie man auf Lug und Trug ein neues Leben glaubhaft aufbauen kann", bleibe Schwerte indes eine Antwort schuldig, repliziert Theo Buck (ebd., 11.12.). Im übrigen sei die Vermutung, Schwerte‑Schneider habe bei seiner Karriere von einem Netzwerk von Mitwissern profitiert, noch lange nicht vom Tisch. Ein studentisches AutorIn­nenkollektiv, das sich eingehend mit dem Fall befaßt hat, legt in dem im Unrast‑Verlag erschienenen Buch "Schweigepflicht. Eine Repor­tage" (276 S., DM 24,80) Tatsachen vor, welche die bis heute nicht bewiesene Netzwerk‑These zum Teil erhärten ("Rheinischer Mer­kur", 15.11.). Helmut König, Wolfgang Kuhlmann und Klaus Schwa­be haben im Beck‑Verlag vor kurzem das Taschenbuch "Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS‑Vergangenheit der

deutschen Hochschulen" herausgegeben (360 S., DM 24,‑). "An­hand dieses Falles diskutiert der... Band Aspekte der noch immer unbewältigten Vergangenheit der deutschen Hochschulen" ("Neue Zürcher Zeitung", 12.7.). Die Beiträge, besonders die von Gjalt R. Zondergeld, Ludwig Jäger und Klaus Weimar, wollten "vor allem das Exemplarische an Schwertes Lebensweg herausarbeiten", bemerkt die "Stuttgarter Zeitung" (25.7.). Das Buch basiere auf einer Aachener Ringvorlesung und mache, alles in allem genommen, "das Pathologische an der postfaschistischen Normalität sichtbar", betont Ulrich Wyss ("tageszeitung", 19.4.). Der Band sei hochinteressant, meint Jost Nolte ("Die Welt", 3.5.), der vor allem auf Klaus Weimars Beitrag hinweist, in dem gezeigt werde, daß Schneider "mit nur unwesentlichen Abweichungen auf demselben akademischen Weg hätte voranmaschieren können, den er als Schwerte tatsächlich gegangen ist". Es sei den Beiträgern schwer­ gefallen, hier "nicht an die Figuren Max Frischs  zu denken", stellt Ulrich Raulff heraus ("Frankfurter Allgemeine", 23.5.). Raulff ver­weist auch auf den inzwischen vorliegenden, von Bernd‑A. Rusinek verfaßten Bericht der nordrhein‑westfälischen Untersuchungs-kommission, der "alle Ansätze einer falschen Dramatisierung des Falles" vermeide, die nach wie vor die Schwerte‑Schneider‑Diskus­sion beherrschten und er berichtet von einem Kolloquium über "NS-Eliten in der Bundesrepublik", das, veranstaltet vom Kulturwissen­schaftlichen Institut Essen und dem Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, kürzlich in Düsseldorf stattfand. Der Fall Schwerte‑Schneider habe ‑ ähnlich wie die Fälle der Literaturwissenschaftler de Man, Emrich und Jauß oder der Historiker Conze, Schieder und Erdmann - "die sinnproduzierende und ‑verteilende Klasse ins Mark" getroffen. "Wenn sich herausstellt, daß die jüngere Botschaft, die der älteren fundamental widerspricht, aus demselben Mund kommt ‑ wie wahr kann jene dann noch sein? Wie tragfähig oder wie trügerisch ist der kritische Diskurs der Bundesrepublik, wenn sein Träger zuvor - nicht weniger effektiv ‑ die Ideologie des Rassismus verbreiten half?" Raulff hebt die hilfreichen Beiträge der Zeithistoriker Norbert Frei, Ulrich Herbert, Axel Schildt und Hans‑Ulrich Thamer hervor - der Fall Schwerte‑Schneider stelle sich, wie andere Fälle auch letztlich als "eine Lektion in Skepsis gegenüber der biographischen Wahrheit" dar. Hermann Horstkotte betont, daß nicht nur der frühere Minister und Freund Schwertes, Herbert Schnoor, sondern auch der jüdisch‑deutsche Exilautor Hans Keilson an einen inneren Wandel des Germanisten glaubten ("Die Welt", 20.5.). Wer wie Schwerte nach dem Krieg ein Buch über "Faust und das Faustische" schreibe, sei kein SS‑Mann mehr, meint Keilson. "Jemand der Wechsel fälscht, kann durchaus ein Klaviervirtuose sein", wird Jochen Hörisch zitiert. Man habe auf diesem Kolloquium, nicht zuletzt aufgrund der Hartnäckigkeit von Studenten, offen zugeben müssen daß in puncto "real existierende Netzwerke" vieles offengeblieben sei, berichtet Ingrid Müller‑Münch ("Frankfurter Rundschau", 15.5.). Innerhalb der Germanistik sei über die Geschichte des Faches in der NS‑Zeit zu wenig bekannt, meint Thomas Faltin ("Stuttgarte, Zeitung", 20.2.). Gerd Simon und Joachim Lerchenmüllers Anfang des Jahres in Tübingen gezeigte Ausstellung zu diesem Theater habe dazu wichtige Informationen bereitgestellt. Aus dem ideologischen Kontinuum vom wilhelminischen Reich über die NS‑Zeit bis in die Epoche der Bundesrepublik hinein hätten die Veranstalter eine "Fülle kontaminierter Wissenschaftler" aus den Archiven gefiltert, berichtet Werner Jacob ("Tagesspiegel", 19.2.). Die Debatte um Gelehrte wie Leo Weisgerber und Wilhelm Emrich, aber auch Josef Nadler, Adolf Bartels, Paul Fechter, Hans Pyritz oder Ulrich Pretzel habe durch den Fall Schwerte‑Schneider an Brisanz aber auch an Genauigkeit gewonnen, meint Jost Nolte ("Die Welt" 16.11.) unter expliziten Hinweisen auf den Band "Zeitenwechsel" (...). Wilhelm Emrich etwa, über dessen Leben Kurt Mautz 1996 eine Art Schlüsselroman mit dem Titel "Der Urfreund" vorgelegt hat (Igel-­Verlag, 188 S., DM 38,‑), habe sich nie über seine NS‑Vergangenheit geäußert, was sich ‑ wie Tilman Krause meint ("Tagesspiegel", 13. 1.) ‑ "wie in den jeweils anders gelagerten Fällen Schwerte und Jauß" als recht mißlich erweise, weil es fragwürdigen Interpretationen, wie sie der Roman biete, Tür und Tor öffne. Es bleibe zu hoffen, so Ingrid Kasten (ebd., 19.1.), daß Wilhelm Emrich trotz seines hohen Alters noch die Kraft finde, sich zu erklären. "Der Urfreund" sei ein recht kunstloses und sprödes Werk, und womöglich trage es zum komplexen und beunruhigenden "Fall Emrich" nicht allzuviel Neues bei, bemerkt Lorenz Jäger ("Frankfurter Allgemeine", 9.11.). Es sei als Lob gemeint gewesen, wenn es im Vorwort einer Festschrift für Emrich, die einige seiner Schüler 1975 veröffentlichten, heiße: "Man weiß nie ganz genau, woran man mit ihnen ist". Im Lichte der Schwerte-Schneider‑Affäre klinge dieses Lob denn doch ein wenig schal. (...)

 

Quelle: "Fachdienst Germanistik 9 / 1997

 

Anmerkung: Wenn - insbesondere Studenten - hartnäckig, aber vergeblich, nach dem "Netzwerk" zur Erlangung der "postfaschistischen Normalität" fahndeten, hätte ihnen ein Blick auf Rotary, Lions, Freimaurer, BND, BKA, CIA usw." viele ungeahnte Perspektiven eröffnet. Man befasse sich exemplarisch nur mit dem Kapitel "Mit Naziveteranen zum Kampf" in "Im Namen des Staates. CIA, BND und die kriminellen Machenschaften der Geheimdienste" von dem ehemaligen Bundesminister Dr. Andreas von Bülow.

Auch der Ruf der DDR als Hort des Antifaschismus' ist längst zerstört. Den Anfang machte der SPIEGEL und Henry Leide gab dieser Illusion in "NS-Verbrecher und Staatssicherheit" den Rest.

Für den West-Kapitalismus wie für den Ost-Kommunismus waren diese Nazis doch ein Glücksfall. Sie waren ohne Ende erpressbar und hatten in aller Regel den größten Teil ihrer Ehre in der Zeit vor 1945 eingebüßt oder nie besessen.