Pest und Cholera
Wenn man die Aussagen der
führenden Politiker der großen Parteien in den letzten Wochen ernst nimmt, dann
ist eines klar: Wir werden entweder von unreifen Regierungsunfähigen regiert
werden oder von ausgelaugten Zukunftsunfähigen oder von einer Kombination aus
beiden. Da hätten wir also die Wahl zwischen Pest und Cholera.
Was die einen über die anderen
im Wahlkampf abgesondert haben, das hat Auswirkungen auf die Wertschätzung der
politischen Klasse beim Volk; das war kollektiver Selbstmord. Aber ich habe als
Bischof (natürlich) soviel Gottvertrauen, daß ich trotzdem zur Wahl gehe. An
die neue Regierung, ganz gleich weicher Couleur, habe ich zwei Wünsche:
1. Wir sind ein vergreisendes
Volk von Individualisten und Egoisten, die ihre Altersversorgung vom Staat
erwarten. Schon ein Blick auf die demographische Entwicklung zeigt, daß das
nicht gehen kann. In dieser Situation erwarte ich von der Regierung, daß die
Förderung der Familie absolute Priorität hat. Für ein Kind aus einer normalen
Familie wendet unser Staat zur Zeit etwa 400 bis 500 Mark im Monat auf. Für aus
dem Nest gefallene Kinder ‑ Scheidungswaisen, verhaltensgestörte oder
kriminelle Kids ‑ etwa das Zehnfache, 4000 bis 5000 Mark, von Exzessen
wie Erlebnisreisen für Serientäter ganz zu schweigen. In den USA gibt es schon
Kommunen, die zahlen Prämien für eheliche Treue, weil die sich
volkswirtschaftlich bezahlt macht.
2. Vom Bundespräsidenten bis
zu jedem Sonntagsredner rufen plötzlich alle nach den Werten in unserer
Gesellschaft. Wo sind die denn geblieben? Jahrzehntelang wurden die Werte, die
wir in unserer von den Wurzeln her christlichen Gesellschaft mal hatten, etwa
Nächstenliebe, Treue, Opferbereitschaft, verhohnepipelt und niedergemacht. Die
Fernseh-unterhaltung bezieht ihre Spannungsmomente heute zu 95 Prozent aus
Untreue, Unzucht und Gewalt. "Der Ehrliche ist der Dumme" ist der
treffende Titel eines Bestsellers. Da gehen die Werte natürlich zum Teufel.
Lebensmittel, Medikamente,
Castor-Transporte werden scharf überprüft. Ich kenne keinen, der von Castor‑Strahlen
geschädigt worden ist, wohl aber Hunderttausende, die von Fernsehausstrahlungen
seelisch beschädigt worden sind. Da wird menschliche Substanz vergiftet und
zerstört, im Namen der Freiheit. Ein Reinheitsgebot haben wir in Deutschland zwar
für Bier, aber nicht für die Massenkommunikation. Eine Kindergärtnerin muß eine
mehrjährige Ausbildung absolvieren, bevor ihr zehn Kinder anvertraut werden,
aber im Fernsehen, dem täglich Millionen Kinder ausgesetzt sind, kann jeder
ungebildete Komödiant sittliche Maßstäbe niedertrampeln, da regt sich kein
Widerstand.
Doch eine Regierung, die dem
Einhalt gebietet, die es wagt, die Ursachen des Werteverfalls und der
sittlichen Verwahrlosung ähnlich zu bekämpfen wie verdorbene Lebens‑ oder
Arzneimittel, die braucht bisher ungekannten Mut.
Natürlich muß auch unser
Sozialsystem reformiert werden. Denn inzwischen ist allen klar, daß wir auf
Dauer nicht mehr ausgeben dürfen als reinkommt. Aber dazu äußern sich sicher
genug andere, vom Bundesbankchef Tietmeyer bis zu Herrn Westerwelle.
Für die Kirche als solche sehe
ich keine bedrohliche Entwicklung voraus, egal, wie die neue Regierung aussehen
wird. Die Kirche kann sich in offener Konfrontation ebenso gut behaupten wie in
schleichender Umarmung.
Und schließlich: Was ich
selber wähle? Als ich das 1994 gefragt wurde, habe ich noch gesagt: "Zum
Sonntagsbraten wähle ich am liebsten Kohl, leicht abgebrüht." Dieses Mal
fallen mir eigentlich keine Scherze mehr ein.
Quelle: Johannes Dyba - weiland Erzbischof von Fulda - in DER SPIEGEL 40
/ 1998 / 42 ("Pest oder Cholera")