Opposition als Praxis
Tagungen, Kongresse,
sogenannte »Gespräche« und »Begegnungen« greifen gern das Aktuellste, die
»heißen Eisen«, auf und entlassen ihre Teilnehmer im Glauben, man habe etwas
für die Lösung der brennenden Probleme getan. Unsere Gesellschaft ist auf die
Fiktion dressiert, es sei noch alles in Ordnung beziehungsweise in Ordnung zu
bringen, solange über alles gesprochen werden kann. Ein demokratischer Zustand
von Gesellschaft und Politik wird noch dann suggeriert, wenn gerade der
undemokratische Zustand von Gesellschaft und Politik zur Diskussion steht. Das
bewies einmal mehr auch das diesjährige (1968, d.V.) Nürnberger Gespräch. Denn
dasselbe, was wir hier in Diskussion und sogenannten »Arbeitsgruppen« vertreten
durften, gefährdet sofort und buchstäblich unsere Existenz, wenn wir seine
Realisierung auf der Straße fordern. Das beweist, daß derartige Diskussionen
hauptsächlich Ventilcharakter haben; die Probleme, die das System nicht
bewältigt, werden ins Ghetto der Diskussionen, ins Kulturghetto abgedrängt.
Kritik, in die Kanäle der so unablässig wie unverbindlich und folgenlos
diskutierenden Kulturindustrie abgeleitet, stärkt schließlich das, was sie
angreifen möchte.
Wer also hier, progressiv
gesinnt, diskutiert hat und meint, damit sein Scherflein zur Demokratisierung
beigetragen zu haben, täuscht sich darüber hinweg, daß er das Gegenteil
bewirkt. Angesichts einer gesellschaftlichen Entwicklung, welche die latente
Gewalt der Herrschaft immer mehr in manifeste verwandelt, erhebt sich für
diejenigen, die einer solchen Entwicklung ernsthaft zu begegnen suchen, die
Frage, ob eine Teilnahme an Diskussionen dieser Art noch sinnvoll sein kann.
Künftige Diskussionen, die vorgeben, Probleme unserer Gesellschaft tatsächlich
lösen zu wollen, sollten daher von vornherein darauf angelegt sein, zu jener
politischen Praxis zu führen, die in Rede steht: Opposition.
Quelle: Stellungnahme der außerparlamentarischen Opposition, formuliert
von Peter Hamm und Arnhelm Neusüss, unterzeichnet von Vertretern der APO
("Gespräche über Opposition oder Opposition als Praxis") in Hermann
Glaser - Karl Heinz Stahl (Hg.) "Das Nürnberger Gespräch. Opposition in
der Bundesrepublik", Freiburg 1968, S. 189 f